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Philosophiegeschichte

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(Siehe zu Arendt und Marx)

Kritische Anmerkungen zu Hannah Arendt

Phänomenologischer Irrationalismus und Antimoral

Inhalt

1.   Die phänomenologische Methode Husserls

2.   Die Methode von Hannah Arendt und ihre philosophischen Grundpositionen

3.   Auswirkung ihrer Methode auf ihre Sachanalysen

4.   Zusammenfassende Beurteilung der Philosophie
von Hannah Arendt

Literatur

In Hannover gibt es jährlich „Hannah-Arendt-Tage“, in der Stadtbibliothek einen Hannah-Arendt-Raum, Straßen wurden nach ihr benannt, Gedenktafeln angebracht, ein Hannah-Arend-Haus existiert, ein „Hanna-Arendt-Schüler-Lehrstuhl“ wurde eingerichtet und Schulen nach ihr benannt. Man ist stolz darauf, dass solch eine Philosophin ihre Wurzeln in dieser Stadt hat. In der Philosophie kommt es aber nicht darauf an, ob sie eine Frau war und woher sie kam, sondern auf die Wahrheit ihres Denkens. Das herauszufinden soll mein Essay dienen.
   Dieser Text hat nicht die Aufgabe, Hannah Arendts Philosophie abschließend zu beurteilen. Auch beruht ein großer Teil der Ausführungen zu ihrer Methode auf der (wohlwollenden) Sekundärliteratur. Lediglich die Abschnitte über das „Böse“ und über totalitäre Herrschaft beruhen auf eigenem Lektüre-Studium. Das neue Buch von Emmanuel Faye: Arendt und Heidegger, das demnächst erscheinen soll, habe ich noch nicht eingearbeitet. Mein Text ist als eine erste Annäherung gedacht, allerdings sollten die kritischen Argumente doch berücksichtigt werden, wenn man ihr Denken einschätzen will.

Hannah Arndt ist Phänomenologin. Wenn man ihre Methode verstehen will, dann muss man den Grundgedanken der Phänomenologie von Husserl kennen:

1.   Die phänomenologische Methode Husserls

Die phänomenologische Methode (Wesensschau)

Wissenschaft unterscheidet sich nach Husserl vom nichtwissenschaftlichen Bewusstsein, dass sie eine objektiv begründete Unterscheidung von komplexen Vorstellungen und deren Wesenheiten macht. Für Husserl ist die traditionelle Methode, Wesenheiten zu begründen, nicht mehr akzeptabel, weil sie an der Oberfläche der Phänomene bleibe. Komparation, Abstraktion und Reflexion (vgl. Kant: Logik, S. 524 ff.) würden immer nur Einzelmerkmale herausfinden und zu Wesenheiten kombinieren, denen andere Kombinationen mit dem gleichen Recht gegenüberstehen. (Die hegelsche Bestimmung des Wesens als Gesetz der Erscheinungen kommt bei Husserl nicht vor. Vgl. Hegel: Logik II, S. 153 u. dazu Gaßmann: Grundlagen, S. 374 ff.) Dadurch sei die Begründung von Wesenheiten aber nicht objektiv. Husserl glaubt nun in der „phänomenologischen Wesensschau“ eine Methode gefunden zu haben, diesen Mangel zu beseitigen. „Die Welt der natürlichen Einstellung also, deren ich mir als endlos ausgebreitet in Raum und Zeit bewußt bin, aus der mir ein kleiner Teil, umgeben von dem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit, anschaulich gegenwärtig ist, soll ‚eingeklammert’ werden.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S, 70; in der Darstellung Husserls folge ich Stegmüller.)
Husserl nennt diese Methode auch „phänomenologische Epoché “. Geht man vom Anschaulichen zum Abstrakten vor, dann ergeben sich folgende Komponenten der Reduktion und Einklammerung des Bewusstseinsstroms:

  1. Die „historische Einklammerung“ legt alles ab, was an Theorie und Meinung erinnert, nur die unmittelbare Sache soll gegeben sein. (Tendenz zur absoluten Vorurteilslosigkeit)
  2. Danach folgt die „existentielle Einklammerung“, in der sich von allen Existenzialurteilen enthalten wird. Denn es ist gleichgültig, ob ich z. B. die Wesenheit „Rot“ an einem sinnlich vorliegenden Gegenstand isoliere oder an einer bloßen Vorstellung von etwas Rotem oder von einem imaginären Traum, sofern nur überhaupt Rot in der Wirklichkeit vorkommt. Die historischen und existenziellen Einklammerungen reichen aber nicht aus, um das Wesen zu bestimmen, da sie sich auf Einzelheiten beziehen, das Wesen aber etwas Allgemeines ist. Deshalb kommt hinzu
  3. die „eidetische Reduktion“: Sie führt zur Unterscheidung von Tatsachen, Fakten, Einzelheiten und deren „Wesen“ (Eidos). Aus dem Tatsächlichen wird das Wesen, z. B. dieses individuelle Rot wird zum Wesen Rot, dieser individuelle Mensch hier und jetzt wird zum Wesen Mensch. Die eidetische Reduktion führt zum „transzendenten Eidos“, das den Gegenstand der Ontologie bildet. Das philosophische Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, „zurück zu den Sachen“, das sich gegen die vor 1914 im akademischen Betrieb herrschende neukantianische Philosophie mit ihrem Formalismus richtet, findet in diesem husserlschen Gedanken ihr neues Fundament. Mit der eidetischen Reduktion kreuzt sich
  4. eine „transzendentale Reduktion“, „durch welche die Gegebenheiten im naiven Bewußtsein zu transzendentalen Phänomenen im ‚reinen Bewußtsein’ werden“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 71). Der alleinige Vollzug der transzendentalen Reduktion führt zum „transzendentalen Faktum“ (oder zum „transzendentalen Apriori“), das den Gegenstand der Metaphysik ausmacht.

 

Bei der eidetischen Reduktion ist – gegen die Kritik der Neukantianer (Intuitionismus-Vorwurf) – sowohl die Anschauung, z. B. in der historischen Einklammerung als Voraussetzung der eidetischen Reduktion, als auch der Verstand (im Vollzug der Akte der Reduktion) wie auch die Spontaneität des Denkens wesentlich mitbeteiligt. „Das Eidos wird nicht einfach ‚gesehen’, sobald ein Seiendes zur originären Gegebenheit gebracht ist, sondern die möglichen Abwandlungen dieses Seienden müssen denkend durchlaufen werden, und das Wesen ist dabei erkennbar als das, was in dieser Möglichkeitsabwandlung invariant bleibt.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 80 f.)

Kritik der phänomenologischen Methode Husserls

Diese Methode hat sich als äußerst fruchtbar in der bürgerlichen Philosophie erwiesen (z. B. Scheler, Heidegger, Sartre), auch die Kritik an ihr konnte ihren Erfolg nicht verhindern. Es tat sich ein unendliches neues Arbeitsfeld auf für die, die diese Methode benutzten, um sich den "Sachen selbst" zuzuwenden. Das konnte selbst die folgende Kritik, die im Irrationalismus-Vorwurf mündet, nicht verhindern. Offensichtlich besteht bis heute ein großes Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, sich den Tatsachen zuzuwenden, ohne sie rational begreifen zu wollen. "Trotz harter Irrationalismusvorwürfe" gewinne die Phänomenologie "wieder an Aktualität" (Fellmann: Phänomenologie, S. 22 f.)
    Die historische Reduktion auf ein Unmittelbares, z. B. Rot nach Husserl, setzt eine Vorstellung von seinem Wesen immer schon voraus, sonst könnte ich diese Bestimmung gar nicht aus dem „Erlebnisstrom“ (Husserl) isolieren. Die Wesensschau ist deshalb ein Zirkelschluss. Wenn das Bewusstsein wirklich voraussetzungslos aus dem Komplex der Vorstellungen etwas isolieren wollte, dann müsste es dem ersten Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel folgen: Was einzig unmittelbar gegen ist, sind das Hier und Jetzt, also Raum und Zeit als Formen der Anschauung, aber keine bestimmte Eigenschaft, schon gar kein Wesen. (Vgl. Bensch: Perspektiven) Die Wesensschau soll das Wesen der Dinge begründen – sie setzt aber bereits das Vorhandensein von Wesenheiten voraus – dies müsste aber erst für eine Philosophie, die mit dem Unmittelbaren beginnen will, bewiesen werden. Husserl schließt aus seiner Wesensschau unbegründet auf das Vorhandensein von Wesenheiten.
   Die moderne positivistische Wissenschaftstheorie lehnt die Epoché ab, weil es ein „zweifacher Weg in die Mystik“ sei. Falsch an dieser Kritik ist die Ablehnung der Differenz von Wesen und Erscheinung, richtig daran ist die Kritik an einer Methode, welche die Spontaneität und Intuition des Denkens als feste methodische Regel aufspreizt – was ein Widerspruch ist zur Spontaneität und Intuition des Denkens, die nur unreglementiert ihrem Begriff nach vorstellbar sind. Was im Resultat des spontanen Denkens wahr ist oder nicht wahr ist, erweist sich erst dadurch, ob es stimmig in eine Theorie sich integrieren lässt oder ob diese Theorie auf rationale Weise modifiziert werden muss – dann ist aber die begriffliche Reflexion entscheidend für die Geltung der Intuition. Letztlich erweist und bewährt sich die Wahrheit einer Theorie in der Praxis, die aus der Theorie folgt.
   Sachliche Resultate hat Husserl nicht geliefert – im Gegensatz zu seinem Schüler Scheler. (…) Husserl versucht die Schranken der Subjektivität zu transzendieren (Bulthaup: Metakritik, 1., S. 3). Er will transzendentes Sein immanenzphilosophisch begründen (A. a. O., S. 11). Das aber verfällt der Kantischen Kritik an der Ontologie, in der Kant nachweist, dass Ontologie nur die Denkbestimmungen hypostasiert. (Vgl. u. a. Kant: KrV, S. A395)
(Dies ist ein Auszug aus dem Buch Gaßmann: „Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. Über die Selbstzerstörung der bürgerlichen Vernunft, Garbsen 2014; S. 183 – 185)
   Aus der phänomenologischen Methode folgt eine subjektivistische Herangehensweise an die Wirklichkeit, die an der Oberfläche der Erscheinungen (Phänomene) verhaftet bleibt.

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2.   Die Methode von Hannah Arendt und ihre philosophischen Grundpositionen

Dieser Abschnitt folgt der (wohlwollenden) Darstellung von Maike Weißpflug über die Methode von Hannah Arendt, wie sie sich aus ihrem Gesamtwerk ergibt, ohne auf Entwicklungen dieser Methode einzugehen. Die Methode von Arendt ist aber mehr als bloß eine Verfahrensweise, Gedanken zu generieren und darzustellen, sie enthält auch die Grundposition über das Verhältnis von Subjekt und Objekt, in weiterer Bedeutung auch ihre Erkenntnisweise und Ontologie bzw. Metaphysik.

Ausgangpunkt: die Erscheinungen und die unmittelbare Erfahrung

Fürs erste fußt die Methode von Arendt auf der Phänomenologie Husserls (siehe 1.), auch wenn sie sich kaum über theoretische Philosophie systematisch ausgelassen hat. Arendt geht von einem sinnlich erfahrbaren Phänomen aus und reflektiert dieses. „sie urteilt ganz direkt, gewissermaßen plump, nach den Erscheinungen, nach dem, was sichtbar ist. Mehrfach betont Arendt, welche Bedeutung die Zeitungsfotos als Ausgangspunkt für ihre Kritik hatten.“ (Weißpflug: Die Kunst politisch zu denken, S. 73) Diese Aussage bezieht sich auf ihren Aufsatz „Reflections on Little Rock“, das Foto zeigt ein schwarzes Mädchen, dass von wütenden weißen Schülern beschimpft wird, weil es die Rassentrennung in der bisher weißen Schule durchbrechen wollte. Arendt beschreibt ihre Methode selbst so: „Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildete ein Zeitungsfoto, das ein Neger-Mädchen auf dem Nachhauseweg von einer soeben integrierten Schule zeigte: ein weißer Freund ihres Vaters schützte sie vor einer Horde weißer Kinder, die sie verfolgte, und ihr Gesichtsausdruck war ein beredtes Zeugnis für die offenkundige Tatsache, daß sie nicht gerade glücklich war.“ (Zitiert nach a. a. O., S. 73 f.)
   In dieser vulgarisierten phänomenologischen Methode geht Arend dabei von einer „Teilnehmerperspektive“ aus (S. 80). Bilder oder direkt erfahrene Erscheinungen sind jedoch „nie eine einfache Wirklichkeit“ (S. 84), sie haben einen Kontext, sind in eine historische Situation eingebunden und setzen Begriffe bis hin zu den Kategorien voraus, ebenso moralische Maßstäbe ihrer Beurteilung (wie z. B. Gerechtigkeit), die nicht in dem Bild oder der unmittelbaren Situation gegeben sind, sondern a priori mitgedacht werden. (Siehe das Böse.) Diese theoretischen Voraussetzungen kommen bei Arendt kaum in den Blick. Allgemein gilt: Das Unmittelbare ist immer auch vermittelt. Nur das überhaupt etwas ist, kann als unmittelbar gelten, Sein ohne alle weiteren Bestimmungen. Sobald ich jedoch etwas bestimme, ist dieses Bestimmen immer schon vermittelt durch Sprache, Kultur, Geschichte und theoretisches Denken. Selbst die Sinne sind nach Marx in gewissem Sinn bereits Theoretiker. Arendts Ausgangpunkt, die unmittelbare Erfahrung, jedoch blendet diese Vermittlung aus.
   Das Besondere an Arendts phänomenologischer Methode ist, dass sie Theorien, insbesondere Gesellschaftstheorie ablehnt. So kommt sie, wie gerade in dem obigen Beispiel, zu Fehlurteilen. Sie macht die Eltern für die Situation des schwarzen Mädchens verantwortlich, sie hätten das Kind instrumentalisiert und überfordert (S. 77). Dabei berücksichtigt sie nicht, dass die Kinder von Schwarzen sich ständig in solchen Situationen befinden und Kampf gegen Rassentrennung in den Schulen auch ihr Interesse ist. Ja, um die Situation zu entspannen, tritt sie sogar für eine freiwillige Trennung von Weißen und Schwarzen ein, solange deren Ansichten nicht zu einem Kompromiss führen können.
   Es ist typisch für Arendt, dass sie nicht durch eigenes theoretisches Nachdenken zu einer Korrektur ihrer Ansichten gekommen ist, sondern durch die vehemente Kritik anderer, ohne jedoch in diesem Fall das öffentlich einzugestehen.

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Wahrheit und Pluralität

Anscheinend gibt es für Arendt objektive Wahrheit nur in den Naturwissenschaften, und selbst deren Wahrheit wird bestritten (Weißpflug, a. a. O., 243), im Politischen löst sie objektive Wahrheit in Pluralität auf. „Die Gültigkeit des Urteils bemisst sich nicht an seiner Richtigkeit, sondern vielmehr an dem Kommunikations- und Austauschprozess, an der Öffentlichkeit, in der es geäußert wird.“ (Weißpflug, a. a. O., S. 85) Wahrheit hängt vom Standort des Schreibenden ab, dem „wechselseitigen Austausch der Perspektiven“ (S. 84), der quasi in einem hypothetischen Gespräch mit den anderen ist, die am „Kommunikations- und Austauschprozess“ der Öffentlichkeit teilnehmen (S. 85). Eine „vom eigenen Standort unabhängige Perspektive einzunehmen sei dann ein „Gottestrick“, eine „rationale Wahrheit“ könne es aber – zumindest im Politischen nicht geben. Das „bedeutet auch, die Gültigkeit unserer Überzeugungen und die Grundlagen gesellschaftlichen Handelns stets aufs Neue zu überprüfen, zu hinterfragen und zu interpretieren. Das ist der Kern von Arendts Denken, der sich eben nicht nur in ihren theoretischen Begriffen, sondern als Haltung in ihren polemischen Kommentaren erkennen lässt“ (S. 99). Arendt sagt selbst: „Jede Wahrheit (…) ist unmenschlich im wörtlichen Sinne, (…) weil sie zur Folge haben könnte, daß alle Menschen sich plötzlich auf eine einzige Meinung einigten, so daß aus vielen einer würde, womit die Welt, die sich immer nur zwischen den Menschen in ihrer Vielfalt bilden kann, von der Erde verschwände.“ (Zitiert nach Weißpflug, a. a. O., S. 99) Weißpflug kommentiert solche Aussagen: „Gesellschaftskritiker à la Arendt sind nicht die Repräsentanten der Menschheit, sie bringen keine rational überprüfbaren Prinzipien hervor.“ (S. 100) Das soll allerdings „kein Plädoyer für Beliebigkeit und Relativismus“ sein, sondern dieser Pluralismus setzt die Wahrhaftigkeit bei den Sprechern voraus. „Der Feind des Politischen ist der Konformismus und die Distanzlosigkeit.“ (Weißpflug, a. a. O., S. 100) Arendts Pluralismus geht bis zum Irrationalismus, wenn sie philosophische Begründungen ablehnt. „Einen Anker hat diese Haltung einzig in der Zurückweisung der Frage nach (philosophischer) Begründung. Nach Arendt dürfen wir nicht vergessen, dass die Grundlage einer politischen Ordnung nur aus dem Handeln selbst stammen kann, aus einer Gründung. Eine philosophische Begründung der Politik läuft nach Arendt stets Gefahr, ideologische zu werden, den Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren und gewaltaffin zu werden. Eine solche politische Kritik unterscheidet sich, da sie nicht auf einer Gesellschaftstheorie fußt, stark von der marxistischen Ideologiekritik.“ (S. 103 f.; zu Arendts Begriff der Ideologie siehe unten.)
   Ihr „Lob der Pluralität“, nicht nur als Recht, viele Auffassungen zuzulassen, sondern keine Meinung als „die einzig richtige noch die einzig denkbare“ (S. 101) zu akzeptieren, ist nichts als Skeptizismus, er zerstört das menschliche Denken. Auf sich selbst solchen skeptischen Pluralismus angewandt, würde auch der Pluralismus eine Meinung sein, die auch falsch sein kann. Der Relativismus auf sich selbst angewandt, relativiert den Gedanken des Relativismus, sodass gar kein Streit mehr nötig ist. Praktisch bedeutet dies, dass jedes Handeln nicht nur auch vom Zufall bestimmt ist, sondern dass es gar nichts anderes als Zufall gibt. Nach Hannah Arendt bestehen die Menschen („phänomenologisch“) „aus einer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit“ (totaler Herrschaft 3, S. 210) Wäre der Mensch wirklich anthropologisch so, nicht nur wie er in der bürgerlichen Entfremdung erscheint, dann folgte daraus wie bei Hobbes ein Krieg eines jeden gegen jeden, dessen Resultat in der Moderne der „totalitäre Staat“ wie im Faschismus war. Er schafft ein Zusammenhalt durch „ideologische Indoktrination“ und „absoluten Terror“, sodass die Menschen „alle zusammen“ so organisiert sind, als ob sie „nur einen einzigen Menschen darstellten“ (ebd.). Dagegen ist das Ideal von Arendt die zwanglose Kommunikation und Teilhabe aller Bürger an öffentlichen Angelegenheiten, um zu einem Kompromiss zu kommen, selbst in dem, was als Wissenschaft zu gelten habe. Arendt sieht auch die Grenzen ihres Ideals, nämlich dass „viele Menschen sich in Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu tragen und zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt“ (a. a. O., S: 209f.) Diese Einsicht verweist auf deren ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen, die Arendt in ihrem Freiheitsideal systematisch ausklammert. Was die Autorin nicht reflektiert, ist ein Drittes zwischen anarchischer Freiheit mit Konsens und „totalitärer Herrschaft“, das sind die Erfahrungen der Weltgeschichte, ihre Verallgemeinerungen als Arbeit der Vernunft (Hegel), die Prinzipien begründet haben, innerhalb deren Geltung allererst über die Realisierung von Bedürfnissen und Interessen diskutiert und abgestimmt werden kann – was nur durch zwanglose Kommunikation möglich ist, wenn ökonomische Herrschaft als Grundlage der Demokratie beseitigt ist. So gibt es auch schon in der bürgerlichen Demokratie eine demokratische Grundordnung und die Menschen- und Bürgerrechte, die in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen. Solche normativen Voraussetzungen – wie beschränkt sie in der bürgerlichen Demokratie auch sind – lassen sich aber von ihrer phänomenologischen Position her nicht rational begründen und einsehen, sondern bestenfalls als Fakten konstatieren (siehe unten „Das Böse“).
   Was tatsächlich in der bürgerlichen Demokratie im Pluralismus vermögender Meinung resultiert, sind entfremdete Prinzipien wie der Zwang zur Akkumulation um der Akkumulation willen, die nach der Theoriefeindlichkeit von Arendt noch nicht einmal gedacht werden könnten. Diese Art Pluralismus bedeutet also im Politischen Entfremdung als Auslieferung der Menschen an die Heteronomie der kapitalistischen Gesellschaft.
   Als subjektive Disposition dieser Pluralität, statt objektive Wahrheit, wird nach Arendt der „Mut zum Widerspruch“ (S. 94), das „Wagnis der Öffentlichkeit“ (S. 95), das „Selbstdenken“, im Gegensatz zum Rechthaben, und „die Bedeutung der partikularen Erfahrung“ (S. 96) ausgegeben. Weiter gehört dazu die Haltung oder Denkhaltung, die nicht durch andere korrumpiert ist: Es gilt, „die Gültigkeit unserer Überzeugungen und die Grundlage gesellschaftlichen Handelns stets aufs Neue zu überprüfen (S. 99). Diese subjektive Disposition setzt objektiv die Freiheit des Wortes, eine intakte Öffentlichkeit voraus und die Demokratie als Rahmen des Meinungsstreits. Sie unterscheidet in der entfremdeten Gesellschaft dabei zwischen zwei Typen von Intellektuellen: Den bewussten Paria, der außerhalb der Gesellschaft steht und deshalb sich ein kritisches Bewusstsein leisten kann; und den Intellektuellen als Parvenü, der in der Gesellschaft Karriere machen will und sich deshalb seine Gedanken korrumpieren lässt. (Vgl. Weißpflug, a. a. O., S. 40 u. 46.) Gerade Heinrich Heine als Paradebeispiel des Paria zeigt den bloßen Schematismus dieser Einteilung auf: Er war nicht nur Kritiker, sondern auch jemand, der sich anpasste, indem er z. B. zur evangelischen Religion übertrat, und er hat den „Kommunismus“ in der bürgerlichen Ausburger Zeitung kritisiert, um diesen Begriff zu propagieren, sozusagen als Partisan der Wahrheit.
   Dass auch die Intellektuellen ihre Gedanken auf dem Markt der Meinung verkaufen müssen und damit von ihm abhängig sind, also ihre Gedanken von vornherein durch die Entfremdung geprägt sein müssen, wenn sie damit Geld verdienen wollen, wird in diesem Moralisieren nicht reflektiert, weil es marxistische Ideologie sei. Durch das Vorherrschen ihres Pluralismus und ihrer phänomenologischen Pseudokonkretheit kann nach dem Inhalt der Demokratie und eventuellen sozialen Mechanismen gar nicht mehr gefragt werden. Die soziale Formbestimmtheit der Gesellschaft zu erkennen wird undenkbar – deshalb baut sie auch einen Popanz „Marxismus“ auf, ohne den Gehalt der marxschen Kapitalanalyse auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu begreifen

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Der Begriff der „Ideologie“ als Theoriefeindlichkeit bei Arendt

Ideologie wird allgemein auch jenseits des Begriffs, der auf die marxsche Kapitalanalyse zurückgeht (vgl. Kuhne: Ideologiebegriff), als falsches Bewusstsein bestimmt. Da Arendt keinen Begriff der objektiven Wahrheit hat, insofern dieser einer Gesellschaftstheorie folgt (vgl. Weißpflug, a. a. O., S. 105), kann sie auch keinen Begriff von Ideologie als falsches Bewusstsein haben. Das „Denken ohne Geländer“, das auf „der lebendigen Erfahrung“ beruht (S. 104 f.) sowie ihr Pluralismus und ihr Traditionsbruch lassen keinen allgemeinen Begriff der Wahrheit zu und damit auch keine Ideologie als falsches Bewusstsein.
   Dennoch benutzt sie den Begriff der Ideologie (vor allem in ihrem Totalitarismus-Buch), nicht um „zu entlarven“ (S. 104), sondern Ideologie ist für Arendt alles Denken, das eine „Flucht der Erfahrung“ darstellt (S. 105), d. h. ihrer phänomenologisch reduzierten Erfahrung. Damit aber ist jede Gesellschaftstheorie (und systematisches Philosophieren) Ideologie. „Dem, was faktisch geschieht, kommt ideologisches Denken dadurch bei, daß es aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit – und das heißt natürlich mit einer Stimmigkeit, die in der Wirklichkeit nie anzutreffen ist – alles weiter deduziert.“ (Arendt, zitiert nach a. a. O., S. 105.) Insbesondere richtet sich dieser Ideologiebegriff gegen die marxsche Theorie, wenn Marx hinter den Erscheinungen Mechanismen erkennt, welche die Gesellschaft beherrschen, anstatt das die Gesellschaft ihre Lebensweise autonom bestimmt.
   Auch die „wissenssoziologische, wertfreie Betrachtung der Ideologie“ durch Max Weber oder Karl Mannheim, nach dem alle Theorie Ideologie ist, weil sie in einem spezifisch gesellschaftlichen Kontext entstanden ist, lehnt Arendt ab. Denn die Bewertungsmaßstäbe ergäben sich ebenfalls aus der erfahrbaren Wirklichkeit, sodass Ideologie nicht neutral betrachtet werden könne. Ideologien „stellen falsche, da abstrakte, nicht aus der Erfahrung stammende Reaktionsweisen auf die Situation der modernen Verlassenheit und des Traditionsbruchs dar. Ideologien sind daher für Arendt nicht harmlos, sie sind nicht, wie Mannheim dies sieht, Ausdruck spezifischer Erfahrungen, die durch die Analyse des spezifischen Erfahrungshintergrunds einer Person erschlossen werden können, sondern das Gegenteil: Ideologien leugnen die Erfahrung, sie dienen geradezu dem Zweck, keine besonderen Erfahrungen mehr machen zu müssen.“ (S. 106)
   Kriterium, zwischen Ideologie und akzeptablem Denken zu unterscheiden, ist für Arendt die Anwendung der Ideologie. „Die Ideologie strebt demnach zur Tat, sie ist ohne die zwangsläufig in ihr enthaltene Praxis nur halb verstanden. Ideologien sind nicht einfach nur bestimmte Perspektiven auf die Welt, nicht bloß Bewusstsein, sondern müssen Arendt zufolge politisch gedeutet werden, als Rezepte und damit als Zwangsjacke für das Handeln, das so jeglicher Spontaneität beraubt wird.“ (A. a. O., S. 107) Ideologie heißt für Arendt den „Sieg der ‚Philosophie‘ über die Politik“ (S. 108), das Herstellen über das Handeln, die „Leugnung der Pluralität und der Erfahrung zugunsten einer hergestellten, beherrschbaren Welt“ (S. 109). Damit aber werden alle Gedankengebäude, die nicht auf Pluralität beruhen, also nicht den Skeptizismus huldigen, zur Ideologie erklärt. Deshalb aber wird dieser Ideologiebegriff von Arendt selbst zur Ideologie, verstanden als falsches Bewusstsein, das soziologisch notwendig den unverstandenen Erscheinungen als Pseudokonkretheit aufsitzt und damit den Irrationalismus des herrschaftlich verfassten Ganzen affirmiert.

Die „narrativ erschließende Methode“ von Arendt und ihr „Traditionsbruch“

Arendt bezeichnet ihre Arbeitsweise als „my old-fashined storytelling“ (Weißpflug, a. a. O., S. 1989). Es sei eine „narrativ-erschließende Methode“ (a. a. O., S. 201). In vielen ihrer Texte wird ein „narratives Verfahren“ angewandt. Da die Welt der Phänomene unendlich ist, muss sie das Erzählte laufend kommentieren und reflektieren, um zu allgemeinen Bestimmungen zu kommen. Diese Reflexionen sollen aber nicht in einer Theorie münden oder eine solche mit Beispielen belegen oder illustrieren, sondern die allgemeinen Bestimmungen sollen eng an die unmittelbaren Erfahrungen oder die Erfahrungen anderer Erzählungen anschließen. Sie will einen Zugang zu fremden Erfahrungen finden, um ihren „authentischen, nicht-ideologischen Hintergrund zu erforschen“ (Arendt, zitiert nach Weißpflug, a. a. O., S. 198) „Meine Rechtfertigung, Ihnen davon zu berichten ist, dass ich immer schon daran geglaubt habe, dass, egal wie abstrakt unsere Theorien klingen oder wie konsistent unsere Argumente erscheinen mögen, hinter ihnen sich immer Ereignisse und Geschichten verbergen, die, zumindest für uns selbst, im Kern die umfassende Bedeutung dessen enthalten, was wir zu sagen haben.“ (Arendt, zitiert nach Weißpflug, a. a. O., S. 199; zum Begriff des „Ereignisses“ siehe unten 4.) Weißpflug schreibt dazu: „Denken müsse an Ereignisse gebunden bleiben, ‚wie der Kreis an seinen Mittelpunkt‘ – was dabei herauskomme, seien weder Definitionen noch eine (abstrakte) Theorie, sondern ‚die langsame, mühsame Erkundung und, vielleicht, Kartierung der Region, die ein Ereignis für einen flüchtigen Moment vollständig erhellt hat‘.“ (Ebd.) Von der Postmoderne (Lyotard), die das „Narrative“ auch auf Theorien bezieht, eine Ansicht, die heute ubiquitär ist, unterscheidet sich Arendt dadurch, dass sie gar keine Theorie als systematischen Zusammenhang von Urteilen über einen Gegenstandsbereich anstrebt.
   Dabei gesteht Arendt durchaus zu, gegen alle „Spielregeln“ der herkömmlichen Wissenschaft zu verstoßen. Sie schließt an die Erzählungen die „akzeptierte Methode der isolierenden, destillierenden und darum verfremdenden Interpretation“ an (Arendt, nach Weißpflug, a. a. O., S. 201). Das aber ist eine popularisierte Umschreibung der husserlschen Epoché. Aus dieser phänomenologischen Methode folgert sie, dass diese Erfahrungen gewissermaßen „quer“ zur politischen Ideengeschichte stehen. Das aber bedeutet für Arendt einen „Traditionsbruch“ mit den Konzepten und Begriffen der Philosophiegeschichte, die zur Interpretation der heutigen Erfahrungen nicht mehr geeignet seien. In Arendts Worten: „Die Schwierigkeiten des Verstehens oder sogar Wahrnehmens dieser Dinge sind groß, da alle Werkzeuge des traditionellen politischen und begrifflichen Denkens an diesem Versuch scheitern.“ (A. a. O., S. 201) Der Traditionsbruch ist auch eine Behauptung der phänomenologischen Methode Husserls und korrespondiert mit dem Gedanken Heideggers, die Geschichte der Metaphysik sei seit den Vorsokratikern fehlgeleitet als Abkehr vom Sein. Ist dies bei Heidegger begründet, wenn auch falsch, so ist es bei Arendt bloße Behauptung. Unmittelbare Folge dieses Traditionsbruchs bei Arendt ist, da sie sich durchaus auf die Geschichte der Philosophie bezieht, eine willkürliche Deutung von Ideen dieser Geschichte.

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3.   Auswirkung ihrer Methode auf ihre Sachanalysen

Sachanalyse: Herstellen und Handeln

Arendt unterscheidet mit Aristoteles zwischen Herstellen und Handeln. Herstellen, die Produktion von Gütern, war bei Aristoteles Sache der Sklaven, Tagelöhner und Handwerker; Handeln kam den freien Polisbürgern in Bezug auf die Gemeinschaft der Bürger zu, indem sie als autarke während ihrer freien Zeit für die Polis tätig sein konnten. Dass jenes Handeln in der Polis immer auch um Herrschaft, Mehrprodukt und Machtausübung ging, wird von ihr verdrängt, ihre Vorstellung des Handelns in der Antike ist deshalb geschönt. Selbst als Ideal ist dieser Begriff des Handelns bloß eine abstrakte Utopie, wenn von der antagonistischen Ökonomie und ihrer Überwindung abgesehen wird.
   Diesen Begriff des Handelns bezieht Arendt nun auf die Moderne. Dem Herstellen stellt Arendt einen Handlungsbegriff entgegen, der von den sozialen Interessengegensätzen abstrahiert. „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (Arendt, zitiert nach Habermas: Hannah Arendt, S. 229 f.) Habermas kommentiert dieses „kommunikative Handlungsmodell“: „Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke (wie bei Max Weber, BG), sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation.“ (A. a. O., S. 230) Doch Handeln aufgrund „eines in zwangloser Kommunikation herbeigeführten Konsenses“ (Habermas, a. a. O., S. 231) vergisst, dass solch ein Konsens gar nicht möglich ist, wenn sich antagonistische Klassen gegenüberstehen. Zwischen der Klasse der Lohnarbeiter und der Bourgeoisie gilt in Bezug auf Lohnhöhe, Arbeitszeit usw.: „Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warentausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.“ (Marx: K I, S. 240) Arendt (und Habermas) können Handeln aufgrund eines Konsenses in der Klassengesellschaft nur behaupten, wenn bei Arendt die Klassengesellschaft in eine Massengesellschaft umgedeutet wird (siehe unten) oder wenn bei ihr „Kapitalismus (…) nicht vorkommt“ (Habermas Kritik an Arendt, a. a. O., S. 226) oder wenn Habermas das Handeln allein in der „Lebenswelt“ (ein Begriff von Husserl) situiert, die von der ökonomischen Welt, dem „System“, abgekoppelt ist. Rolf Johannes hat diese Trennung und damit auch Arendts Abstraktion von der Ökonomie kritisiert: „Daß die Menschen ganzer Weltteile verrotten (…), daß der kapitalistische Akkumulationsprozeß die Naturgrundlage menschlichen Lebens zu zerstören tendiert, daß ständig Kriege angezettelt werden und die globale Vernichtung droht, daß die bürgerliche Demokratie jederzeit durch den autoritären Staat ersetzt werden kann, solange der Kapitalismus fortexistiert, diese menschheitlichen Probleme läßt die kommunikationstheoretische Freizeitphilosophie notwendig ‚auf sich beruhen‘.“ (Johannes: Habermas, S. 60)
   Stattdessen wird bei Arendt willkürlich und schematisch alles auf die zwei Begriffe Herstellen und Handeln reduziert. Im Gegensatz zum Vorrang des Handelns in der Antike werde in der Moderne nach Arendt alles dem Herstellen untergeordnet, also auch das Handeln, indem es entgrenzt wird zur „Überzeugung von der Allmacht des Menschen“, wie es besonders vom Totalitarismus behauptet wird. Arendt „weitet (…) ihre Kritik am Produktionsparadigma, an der Welt des Homo Faber, in der das Herstellen an die Stelle des Handelns tritt, auf die kapitalistische Produktion und den konkreten Umgang mit den Dingen, der Welt und der Umwelt aus.“ (Weißpflug, a. a. O., S. 244) Sie trifft damit zwar einen Aspekt der kapitalistischen Welt, dies ist aber nur scheinbar eine Kritik an diesem Wirtschaftssystem, weil sie weder einen Begriff des Kapitals hat noch dessen Mechanismen versteht bzw. verstehen will (Theoriefeindlichkeit). Sie kann deshalb auch nur die Oberfläche des Kapitalismus kritisieren. Sie macht darum wie viele oberflächliche Kritiker moralisierend („moderne Arroganz“, S. 261) allein die Individuen für die Probleme der Welt, die „aus den Fugen geraten ist“, verantwortlich (S. 245). Oder sie sieht in der Entwicklung der Technik das entscheidende Problem der Moderne. „Die technische Entwicklung und der Fortschritt bringen Dinge hervor, die eigentlich nicht mehr kontrollierbar sind. Arendt beschreibt diese Entwicklung als Dilemma der Moderne.“ (S. 262) Technik und ihre Entwicklung aber ist kein Subjekt der Tätigkeit, sondern die Menschen und ihre selbstgeschaffenen Mechanismen sind das Subjekt. Es müsste die ökonomische Formbestimmtheit der Anwendung der Technik reflektiert werden. Das aber ist Arend unmöglich, weil sie die Gesellschaftstheorie, die Grundlage einer solchen Reflexion sein könnte, abstrakt negiert.
   Zur Klärung des Problems „Technik“, ein Auszug aus meinem Buch: „Autonomie oder Heteronomie?“
   Das Kapital ist ein Fanatiker bei der Senkung des Kostpreises, ohne Rücksicht auf die Gesundheit und die Arbeitsintensität/-qual seiner Produzenten. Gerade weil die Arbeiterbewegung dagegen Standards erkämpft hat, bildeten und bilden sich bis heute Illusionen über die kapitalistische Technik. „Da also die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert usw. erklärt der bürgerliche Ökonom einfach, das Ansichbetrachten der Maschinerie beweise haarscharf, daß alle jene handgreiflichen Widersprüche bloßer Schein der gemeinen Wirklichkeit, aber an sich, also in der Theorie gar nicht vorhanden sind. Er spart sich so alles weitre Kopfzerbrechen und bürdet seinem Gegner obendrein die Dummheit auf, nicht die kapitalistische Anwendung der Maschinerie zu bekämpfen, sondern die Maschinerie selbst.“ (Marx: K I, S. 465) Illusionen über die kapitalistische Maschinerie finden sich heute oft bei grünen Idealisten, die Bekämpfung der Maschinerie bis zur Maschinenstürmerei bei den Technikpessimisten. Dummheit, d. h. mangelnde Urteilskraft, ist es, die humanen Möglichkeiten der Technik mit ihrer kapitalistischen Verwendung zu konfundieren. (…) Wie der kapitalistische Ideologe die Möglichkeit der Maschinerie unter Abstraktion von ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit betrachtet, so reduziert der Kritiker der Technik die Möglichkeit der Maschinerie auf ihre kapitalistische Anwendung. (Gaßmann: Autonomie, S. 152) Letzteres ist die Tendenz von Arendt (und ihres vormaligen Ehemanns Günther Anders).

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Sachanalyse: Das Böse und die Moral

Der Titel des Buches von Arendt „Über das Böse“ ist zwar nicht von ihr, aber ihre Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“ von 1965 hat u. a. das Böse zum Gegenstand.
   Damit wir über das Böse reden können, müssen wir es bestimmen. Das Böse ist ein Reflexionsbegriff, also nicht unmittelbar aus dem Empirischen erschließbar, damit wir es bestimmen können, muss es vom Guten abgegrenzt werden. Und das Gute hat nur Bedeutung in Abgrenzung vom Bösen. Auf die Moral bezogen, ohne die religiöse Konnotation, ist das Böse das moralisch Schlechte und das Gute ist die Einhaltung der moralischen Grundsätze. Da Arendt jedoch keine Definitionen geben will und moralische Grundsätze ablehnt, bleibt in diesem Werk weitgehend unbestimmt, was nun das Böse ist – außer Hinweisen auf konkrete Ereignisse.
   Arendt bestimmt das Böse tautologisch: Es ist das, was „um das Böse willen“ gewollt wird (Arendt: Über das Böse, S. 42), das bewusste Unrechttun (a. a. O., S. 43). Diese tautologische Definition steht im Widerspruch zu ihrer Kant-Kritik, dessen kategorischen Imperativ, ohne auf seinen Gehalt einzugehen als „Diktat der Vernunft“ (S. 41), als ein „Begriff des Gehorsams“, der durch die Hintertür eingeführt werde, kritisiert wird, als ob nicht nach Kant wir selbst, als Menschheit in unserer Person, es sind, die sich diesen Imperativ geben. (In dieser Kritik trifft sich Arendt mit Adorno, vgl. Negative Dialektik, S. 240 u. 258.) Eine Wahrheit, die nicht auf der sinnlichen Erfahrung beruht, kann es jedoch für Arendt nicht geben. Statt den Begriff des Bösen zu klären, um ihn unabhängig von ihren Beispielen anwenden zu können, gibt sie selbst nur Beispiele wie „Sadismus, das reine Vergnügen an der Erzeugung und Betrachtung von Schmerz und Leid“ (S. 42). Das „Wesen des Bösen“ sei „zu erzählen“ (Arendt: Über das Böse, S. 44). Eine dieser Erzählungen war die Erfahrung der Vernichtung der Juden in den Todeslagern. „Doch das wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen.“ (S. 45) Der Maßstab ist in dieser Aussage zwar genannt: „sprachloses Entsetzen“, aber nicht ein bestimmtes Gutes, sondern das „eigene moralische Empfinden“ (nach Augstein im Nachwort, S. 182). Das „moralische Empfinden“ setzt stillschweigend den „Normalmenschen“ voraus, der eine historische Fiktion ist, wie bei dem Neukantianer Windelband. Der Sadismus in den Todeslagern mag in Hannah Arendt zwar Entsetzen auslösen, er widerspricht aber ihrer Erfahrung von der „Banalität des Bösen“, die sie in Eichmann verkörpert sah und auch Äußerungen von Himmler, der von der „Moral“ der KZ-Schergen gesprochen hat, ihre Pflicht getan zu haben, ohne Sadisten geworden zu sein, sondern gut funktioniert hätten als Bürokraten des Todes. Einen anderen Maßstab, der zur Bestimmung des Bösen für Arendt dient, sind „jene Leidenschaften des empörten Mitleidens“, „durch die von jeher Menschen für die Gerechtigkeit mobilisiert wurden“ (Arendt: totalitärer Herrschaft, 3, S. 211). Mitleid ist als Gefühl ambivalent, an das unmittelbare konkrete Leiden gebunden und selbst im Faschismus als Mittel der Manipulation („Gräuelpropaganda“) missbraucht worden. Es setzt eine homogen Gefühlswelt der Menschen voraus, die es im „prätotalitären Meinungschaos“ (a. a. O., S. 71) (und auch Gefühlschaos) nicht mehr als allgemeines und identisches gegeben hat. (Vgl. zum Mitleid auch Gaßmann: Zur Geschichte, S. 241 f.)
   Statt das Böse als Begriff zu bestimmen, was sie von ihrer phänomenalen Voraussetzung gar nicht kann, greift sie selektiv eine These aus der Geschichte der Ethik auf wie die Behauptung Platons, dass es für die Menschen „unmöglich“ sei,  „vorsätzlich schlechte Dinge zu tun, das Böse um des Bösen willen zu wollen“ (Arendt: Über das Böse, S. 42). Diese Behauptung durchziehe, so Arendt, die ganze philosophische Tradition, obwohl schon bei Augustin das Gegenteil in seinem moralisch neutralen Begriff des Willens behauptet wird. Im Mittelalter galt der bewusste Verstoß gegen die göttlichen Gebote als eigentliche Sünde (z. B. bei Abaelard). Mandeville und de Sade haben die Lust am Manipulieren und Quälen durchaus beschrieben (und sogar gerechtfertigt).
   Im weiteren Verlauf des Buches über Moral/das Böse reflektiert Arendt psychologische Mechanismen entsprechend ihrer phänomenologischen Methode, wie Erinnern, Reue, Urteilsfähigkeit. Auch hier beschreibt sie ihre Methode: „Denken als Tätigkeit kann aus jedem Ereignis (!) entstehen; es ist da, wenn ich einen Vorfall auf der Straße beobachtet habe oder in ein Geschehen hineingezogen wurde und danach beginne, das, was geschah, zu betrachten, es mir selbst als eine Art Geschichte erzähle, es auf diese Weise für die anschließende Kommunikation mit Anderen aufbereite usw.“ (S. 75) Aus solchen psychologischen Reflexionen folgert sie: „Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten.“ (S. 77) Da die bösen Taten unvermittelt ablaufen, sind sie auch prinzipiell nicht begrenzbar. „Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbare Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“ (Ebd.). In der philosophischen Tradition galt das Böse als Privation des Guten, einer Wurzel des Menschlichen; indem Arendt die Wurzeln des Guten in den Moralprinzipien negiert, hat sie keinen anderen Maßstab gegen das Böse als das psychologische Erinnern. Man müsste, konsequent ihren Gedanken folgend, erst das Böse tun, um sich danach daran erinnern zu können, um es zu lassen! Voraussetzung von Einsicht, Schuld und Reue ist eine gewisse Kontinuität meines Bewusstseins, das, was man einen gewissen stabilen Charakter oder eine Person nennt. „Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten gehabt und immer nur Befehle befolgt. Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.“ (S. 101) (Das widerspricht allerdings der Machttechnik des Führerprinzips, siehe Totalitarismus, und den wahren Charakter von Eichmann, siehe unten.) Voraussetzung von Personsein ist der freie Wille. Doch den bestreitet sie und untergräbt damit ihre Moralbegriffe wie „Verantwortung“, „Schuld“ und „Reue“. Da Arendt moralische Fragen auf psychologische reduziert, kann sie auch keinen freien Willen annehmen, da dieser nicht empirisch oder phänomenologisch begründet werden kann. Auch deshalb kann es für Arendt keinen freien Willen geben, weil er als eigenständiges Vermögen der Seele zwischen Begierden und Vernunftprinzipien wählen können muss, es aber für die Phänomenologin keine Vernunftprinzipien gibt. Nach Nietzsches sensualistischem Empirismus, dem sie hier zustimmt, gilt: „Es gibt zwei Hypothesen, die Hypothese der Wissenschaft, daß es keinen Willen gibt, und die des allgemeinen Menschenverstandes, daß der Wille frei ist. Und die letztere ist ‚das herrschende Gefühl, von dem wir uns nicht losmachen können, auch wenn die Hypothese (der Wissenschaft, H. A.) bewiesen wäre‘. Mit anderen Worten, in dem Augenblick, in dem wir zu handeln beginnen, nehmen wir an, daß wir frei sind, unabhängig davon, ob das der Wahrheit entspricht.“ (S. 126) Jede Aussage für oder gegen den freien Willen setzt eine Synthese von grammatischem Subjekt und Prädikat voraus, die nicht in der Natur vorkommt und auch nicht empirisch in der Psyche, also immer schon ein Vermögen des geistigen Willens ist (als Tätigkeit des Leugnens) voraussetzt. Die Leugnung der Willensfreiheit setzt also die Willensfreiheit immer schon voraus, ist also selbstwidersprüchlich und damit nichtig. Der Wille kann sich an der Wahrheit orientieren, dann ist er frei, oder Wahrheit wird als Begriff geleugnet, dann ist er nicht frei, sondern irrational, wie er bei Arendt und ihrer Betonung der Spontaneität und des „Selbstdenkens“ (Weißpflug, a. a. O., S. 97) als bloß formaler und willkürlicher Vermögen tatsächlich ist.
   Hannah Arendt hat in ihrem Werk keine Moralprinzipien begründet, weil sie eine rationale Begründung grundsätzlich ablehnt. Sie kommt aber nicht ohne Moralgrundsätze aus, sonst könnte sie noch nicht einmal den „Totalitarismus“ kritisieren (siehe unten). Deshalb muss aus ihren gelegentlichen Äußerungen geschlossen werden, was sie unter Moral versteht. In ihrem Totalitarismusbuch schreibt sie über die Menschenrechte: Die „schweigende Billigung solcher Zustände in der Mitte Europas (…), welche in einer Periode untergehender politischer Formen plötzlich (…) Millionen Menschen heimatlos, staatenlos, rechtlos machten, wirtschaftlich überflüssig und sozial unerwünscht“ erscheinen ließen, habe sich an ihnen „bereits erwiesen“, „daß die Menschenrechte, welche ohnehin weder philosophisch begründet noch politisch je gesichert waren, auch ihre rein proklamatorische, appellierende Wirkung verloren und in ihrer traditionellen Form zumindest nirgends mehr Geltung hatten.“ (Arendt: totaler Herrschaft 3, S. 220 f.) Die Menschenrechte hätten nie Geltung gehabt oder wären nie „philosophisch begründet“ gewesen, ist eine falsche Behauptung. Dem widerspricht die (apagogische) Begründung der Menschenrechte in der Aufklärung, etwa bei Helvetius und Kant und ihre funktionale Rolle in der kapitalistischen Marktwirtschaft, die sie partiell haben. Solche Unkenntnis kann Arendt nur behaupten, weil sie Philosophie durch die Irrationalität der phänomenologischen Methode ersetzt und kein Wesensbegriff der bürgerlichen Gesellschaft hat. Eine solche oder ähnliche empiristische oder phänomenologische Behauptung hat Kant die „pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung“ genannt (Kant: KrV, S. 352/B 373), weil „in Ansehung der sittlichen Gesetze“ die „Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins“ ist „und es höchst verwerflich“ ist, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird“ (a. a. O., S. 353/B 375). Geht man derart mit Moral um wie Arendt, dann kann man bestenfalls eine Partikular-Moral annehmen, überdies bindet sie dadurch Moral an die jeweilige Macht, sodass jede Monstrosität der Brutalität erlaubt ist, weil sie faktisch getan wird. Dagegen hilflos den gesunden (bürgerlichen) Menschenverstand (vgl. Gaßmann zu diesem Begriff, in: Zur Geschichte, S. 282 f.) und das moralische Empfinden des „Normalmenschen“ zu setzen, ist abwegig und ideologisch, es widerspricht auch ihrer eigenen Behauptung, der gesunde Menschenverstand wie sein moralisches Empfinden sei bereits in der von Arendt beschriebenen „Massengesellschaft“ untergegangen. Arendt kritisiert also die Vernichtungsmaschinerie mit der gleichen Irrationalität wie diejenige, die in der „totalitären Herrschaft“ den Geist dominiert. Indem sie den sanften Zwang, den Vernunft immerhin auf das Selbstbewusstsein der Menschen haben kann (und damit auch auf ihr Überlebensinteresse), denunziert als „Diktat der Vernunft“ (siehe oben), macht sie sich mit dem Irrationalismus der Faschisten gleich, die sie vorgibt literarisch zu bekämpfen. Diese moralische Irrationalität, und nicht die Tatsache, dass sie nach 1945 noch einmal mit dem Faschisten Heidegger geschlafen haben soll, stellt ihre wurzelhafte Nähe zur faschistischen Ideologie dar.

Sachanalyse: Eichmann in Jerusalem oder die „Banalität des Bösen“

Eichmann war für den Transport der Juden in die Todeslager verantwortlich. Er floh nach 1945 nach Argentinien und wurde dort entführt nach Israel, wo ihm 1961 der Prozess gemacht wurde, den Hannah Arendt verfolgte.
   Das Gericht in Jerusalem versuchte Licht in das Dunkel der Entscheidungsprozesse des Vernichtungsapparats des NS-Regimes zu bringen, zugleich versuchte der anklagende Staatsanwalt „die Erfahrung des Holocaust bewußt zur Legitimierung“ des israelischen Staatswesens zu nutzen. Beides aber zugleich war unmöglich, worauf Arendt auch hinwies. „Durch das Bestreben, Eichmann unmittelbar mit sadistischen Verbrechen in Zusammenhang zu bringen, abstrahierte die Anklage von dem typischen Sachverhalt des Schreibtischtäters, der kein spezifisches Unrechtsbewußtsein aufzubringen vermochte.“ (Mommsen: Prozess, in Arendt: Eichmann, S. 17) Für die Einschätzung ihrer Philosophie ist nun wichtig, dass sie mit ihrer „impressionistisch deduzierenden Methode“ (a. a. O., S. 23) und ihrer „charakteristischen Überspitzung der Argumente“ (a. a. O., S. 27) auf die Verteidigungsstrategie von Eichmann, der sich als bloßes Rädchen im Getriebe stilisierte, hereinfiel, obwohl sie diesen Trick durchaus durchschaut hatte. „Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, ‚ein Bösewicht zu werden‘. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive (?); und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell (?), er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte (?).“ (Arendt: Eichmann, S. 57)
   Dieses Hereinfallen auf die Verteidigung von Eichmann, der sich als subalterner Beamter ausgab, mit Gedächtnislücken und „subsidiären Tugenden“ (Mommsen), führte Arendt zu ihrer These von der „Banalität des Bösen“. „Die persönliche und moralische Mediokrität des Angeklagten, von der Hannah Arendt mit guten Gründen schon auf der Basis der noch vor dem Prozeß veröffentlichten argentinischen Aufzeichnungen überzeugt war, veranlaßte sie zu der dann in den Untertitel aufgenommenen Schlußfolgerung von der ‚Banalität des Bösen‘. Je mehr ihr klar wurde, daß Eichmann im wesentlichen nur als gleichsam mechanisches Glied in der Vernichtungsmaschinerie des NS-System fungiert hatte, desto mehr sah Hannah Arendt sich in ihrer bereits früher dargelegten Beobachtung bestätigt, daß der verbrecherische Charakter desselben nicht zuletzt einem Mosaik (!) von im einzelnen trivialer Ursachen (!) entsprang.“ (Mommsen, a. a. O., S. 23) Diese „Banalität des Bösen“ war bestimmt auch ein Charakterzug an dem Organisator der Vernichtungszüge zu den Todeslagern, es war aber nur die eine Seite. Um in ein solches Amt zu kommen, musste man sich auch persönlich qualifizieren, also dem Fanatismus der Nazibewegung anhängen. Eichmann war auch nach 1945 ein fanatischer Faschist, der Überlegungen anstellte, was gewesen wäre, wenn nicht sechs, sondern alle zehn Millionen europäischen Juden ermordet worden wären (nach einem Tonbandmit­schnitt eines Gesprächs 1957 mit dem gleichgesinnten Journalisten Willem Sassen in Argentinien (zu hören in einem Dokudrama der ARD: Adolf Eichmann: Organisator der Endlösung, in: https://www.youtube.com/watch?v=dIMYL0_LxvA (vom 11.6.20).
   In der Einschätzung Eichmanns durch Arendt zeigt sich die Grenze ihrer phänomenologischen Methode, die an der Oberfläche der Erscheinungen verharrt, also im Schein, und in diesem Fall zur Verharmlosung des „Bösen“ führt.

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Sachanalyse: Totalitarismus

Vorbemerkung:

Das Buch von Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Band 3) halte ich für ihr wichtigstes Werk, weil es am sachhaltigsten ist, trotz seiner grundsätzlichen Fehler. Man kann nicht pauschal ein Werk abtun, weil die Grundthese falsch ist. Bei dieser Sachanalyse werde ich mich neben Grundsätzlichem auf das 10. Kapitel beschränken, um auch auf Argumente im Einzelnen eingehen zu können.
   Arendt fragt nach den Gründen für die Ungeheuerlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Was war geschehen? Warum war es geschehen? Wie konnte es geschehen?“ (A. a. O., S. 8)

Über totalitäre Herrschaft

Arendt unterscheidet prinzipiell Diktaturen und die Tyrannis von der totalitären politischen Herrschaftsform. Deren Bedingung ist die „Umwandlung der Klassen in Massen“ (S. 16). Totalitarismus ist gekennzeichnet durch einen Führer, der mittels Führerprinzips und Personenkult politisch herrscht. Dieses System ist durch sich überschneidende Doppel- und Parallelfunktionen (S. 19) bestimmt, sodass der Führer in der Rivalität der unteren Instanzen immer das entscheidende Wort hat. Es beruht auf der „vollständigen Passivität“ der Massen (S. 19) und ist durch Instabilität gekennzeichnet, die durch Terror eingehegt wird (S. 21). Im Gegensatz zur gewöhnlichen Diktatur besitzt der Führer das Vertrauen und die Unterstützung der Massen, die zugleich auch terrorisiert werden. Dadurch entsteht ein totalitärer Wahn und eine totalitäre Mentalität (Gehirnwäsche), die durch Mangel an Urteilskraft (S. 29) ausgezeichnet ist. Die totalitäre Herrschaft benötigt einen „fiktiven Feind“ (S. 27) wie die Juden. Der Terror richtet sich gegen Gegner, innere Konkurrenten („Säuberungen“) und gipfelt im Massenterror: „Verbrecher ohne Verbrechen“, der in der Vernichtung überflüssiger Bevölkerungsteile mündet. Der Führer kann sich das Vertrauen der Massen nicht allein durch Propaganda sichern, sondern es beruht auch auf der „Bewegungssüchtigkeit“ der totalitären Bewegung.
   Der Begriff „Totalitarismus“ hat dann im Kalten Krieg Karriere gemacht, da er erlaubte, die Sowjetunion, die nach Arendt seit 1953 gar nicht mehr „totalitär“ war, mit dem Faschismus propagandistisch gleichzusetzen.
   Konkret nennt Arendt den Zeitraum für die totalitäre Herrschaft in Deutschland 1933 – 1945 und in der Sowjetunion 1929 – 1941 und 1945 – 1953. Die Autorin will „Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen faschistischem und sowjetischem Totalitarismus“ (S. 9) herausfinden. Das „nazistische und das bolschewistische System erscheinen mehr denn je als Variationen des gleichen Modells, nämlich des Totalitarismus“ (S. 16). Da Arendt methodisch vom „erleben“ (S. 9) ausgeht und sei es die Lektüre unmittelbarer Quellen, kann sie die ökonomische  Formbestimmtheit der beiden Gebilde, deutscher Faschismus und monopolbürokratischer Kollektivismus, die nur theoretisch erschlossen werden können, nicht begreifen, beide Systeme sind für sie nur Varianten der totalen Herrschaft. Sie beurteilt die totalitäre Herrschaft als „furchtbarste aller modernen Regierungsformen“ (S. 25).

Massengesellschaft statt Klassengesellschaft

In der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts werden die Interessen der Klassen, auch wenn deren Mitglieder unpolitisch sind, durch Parteien und Organisationen vertreten, die zugleich „Weltanschauungsparteien“ sind (S. 33). Dies ändert sich jedoch. Durch den I. Weltkrieg und die folgenden Revolutionswirren, Inflation und Arbeitslosigkeit entsteht eine „Atmosphäre allgemeiner Zerrsetzung“ (S. 44). Durch den Verrat der SPD an den Interessen der Arbeitenden im Krieg und der Revolution 1918/19 war die Partei als Weltanschauungspartei diskreditiert. Das Kleinbürgertum war verarmt und wurde proletarisiert. Aber auch die Bourgeoisie, die in Deutschland wenig politisch war, verlor ihr Klassenbewusstsein. Ihre Überzeugung von der Identität von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sodass die staatlichen Institutionen ihr „als bloße Fassade für ihre Privatinteressen galten“, war zusammengebrochen, was dazu führte, dass aus ihren Mitgliedern bloße „Spießer“ wurden, zumal die bürgerliche Kultur und ihre konventionelle Moral sich als bloße Heuchelei entpuppt hatten. Dies führte zu einer Atomisierung der Bürger und zum Zusammenbruch der Klassengesellschaft. „Der Zusammenbruch des Klassensystems bedeutete automatisch den Zusammenbruch des Parteiensystems, weil diese Parteien wirklich Interessenparteien waren, so daß ihnen nun gleichsam keine Interessen mehr zur Verfügung standen, die sie repräsentieren konnten.“ (42 f.) Resultat dieser Entwicklung war eine Atmosphäre allgemeiner Zersetzung. Dies führte bei den Massen zur Apathie „verzweifelter und haßerfüllter Individuen“ (S. 43).
   „Der Ausdruck ‚Masse‘ ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen. Potentiell existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder, nur daß sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben und sich damit begnügen, ihre Stimmen nicht abzugeben und den Parteien nicht beizutreten.“ (S. 36)
   „Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein. Insofern sie noch herkunfts- und erinnerungsmäßig stark genug mit der Klassengesellschaft des Nationalstaates verbunden waren, um nach den dort gemachten Erfahrungen ihr neues Leben einzurichten, verfielen sie einem besonders fanatischen und chauvinistisch gefärbten Nationalismus.“ (S. 47)
   Selbst auf die Intellektuellen war kein Verlass mehr, sie waren keine „Priester der Wahrheit“ (Fichte), sondern nach Benda galt „trahison des clercs“ („Der Verrat der Intellektuellen“), also Menschen, die trotz ihrer ausgeprägten Geistigkeit und Kultiviertheit die „vulgärsten Theorien“ akzeptierten, also ihren „Geist“ verieten. Arendt modifiziert diese Tendenz, indem sie darauf hinweist, „daß die Intellektuellen notwendigerweise die Formulierer und Repräsentanten auch dieser Bewegung“ (zur Massengesellschaft) wurden. Diese Reflexion unterstellt, dass es keine objektive Wahrheit gibt, damit wird also Arendt selbst zum Verräter des Geistes nach Benda. Dieser allgemeine Relativismus und Skeptizismus erklärt denn auch die „totalitäre Verachtung für Fakten und Realität“ (S. 18). Selbst die offensichtlichen Lügen des Führers werden hingenommen als raffinierte Strategie gegen die Elite oder den Feind, gegen die sich das Ressentiment der Masse richtet.
   Im Gegensatz zu den Prophezeiungen in der Literatur über die Massengesellschaft entdeckt Arendt das „ganz unerwartete Phänomen eines radikalen Selbstverlusts, diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegnen oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachten als irgendetwas sonst, entgehen konnten.“ (S. 46)
   An diesem Phänomen der Masse konnten die totalitären Bewegungen anknüpfen (während in der Sowjetunion die Masse durch Stalin erst geschaffen wurde, indem er die Klassen zugunsten aller als abhängiger Staatsarbeiter abgeschafft habe, so die „Kulaken“). Die Umwandlung der Klassen in eine Masse isolierter Individuen und die „Beseitigung jeder Gruppensolidarität“ war „die condition sine qua non totaler Herrschaft“ (S. 16). „Es war charakteristisch für den Aufstieg der totalitären Bewegungen in Europa, der faschistischen wie der kommunistischen, daß sie ihre Mitglieder aus der Masse jener scheinbar politisch ganz uninteressierten Gruppen rekrutierten, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder zu apathisch aufgegeben worden waren. Der Unterschied war nur der, daß der Faschismus sich von vornherein an dieses Element in den europäischen Bevölkerungen wandte, während die kommunistische Partei, die ursprünglich ganz im Sinne der Interessenpartei der Nationalstaaten eine radikale Partei der Arbeiterklasse gewesen war, diesen selben Weg verhältnismäßig spät, etwa seit 1930 einschlug, teils weil dies durchaus im Sinne der stalinschen Herrschaft in Rußland lag, und teils weil sie in der Konkurrenz mit dem Faschismus bewußt lernte, sich faschistischer Methoden zu bedienen.“ (S. 37) Daraus folgt auch notwendig, dass die totalitäre Bewegung ein Einparteiensystem etablierte. „Das Resultat der Konkurrenz um die ‚Seele der Massen‘ war, daß die Mitgliedschaft beider Bewegungen aus Leuten bestand, die nie zuvor auf der politischen Bühne erschienen waren. Dies erleichterte natürlich die Einführung ganz neuer Methoden politischer Propaganda ungemein, es ermöglichte vor allem das Totschweigen der Argumente der politischen Gegner; die Bewegungen stellten sich nicht nur prinzipiell außerhalb des Parteiensystems, sie rekrutierten sich auch eine Mitgliedschaft, die niemals von diesem Parteiensystem erreicht und daher auch nie durch es ‚verdorben‘ worden war.“ (S. 37)

Kritik am Begriff der Massengesellschaft

Dass Arendt mit ihrer phänologischen Methode interessante Erscheinungen erkannt und aufgeschrieben hat, die z. T. noch heute aktuell sind, ist der eine Aspekt. Aber ihre Grundthese, die Zerstörung der Klassengesellschaft zugunsten einer Massengesellschaft verabsolutiert oberflächlichen Erscheinungen, vor allem aber kann sie nicht zur wesentlichen Formbestimmtheit der Gesellschaft sowohl im Faschismus wie im „Stalinismus“ vordringen. Das grundlegende ökonomische Verhältnis im deutschen Faschismus war weiterhin das zwischen Lohnarbeitern und Privat-Kapital und die Interessen der Bourgeoisie bzw. ihres Kapitaleigentums waren in dem faschistischen Streben nach Weltherrschaft aufgehoben, auch wenn die Mitglieder der Bourgeoisie politisch entmachtet waren (Papen: Wir haben Hitler in den Sattel gehoben, nun galoppiert er davon.).
   Auch in der stalinschen Sowjetunion bestand das grundlegende ökonomische Verhältnis aus abhängig Arbeitenden und der kollektiv herrschenden Bürokratie („Nomenklatura“), welche die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hatte, wie immer diese „Monopolbürokratie“ (Wittfogel) durch Säuberungen modifiziert wurde. In diesem Gebilde fielen ökonomische Herrschaft und politische Macht wie in der asiatischen Despotie zusammen. Das Mehrprodukt als Resultat der Ausbeutung wurde bei künstlicher Armut der Arbeitenden in die Industrialisierung des Landes und den Ausbau des Gewaltapparates investiert (ohne den die Sowjetunion nicht über den deutschen Faschismus gesiegt hätte).
   Die Reduktion des Blicks auf die bloßen Phänomene, die immer nur die der Oberfläche sind, verhindert das Wesentliche, die Substanz des Faschismus und des monopolbürokratischen Kollektivismus bzw. deren entscheidenden Unterschied, zu erkennen. Für den Faschismus bedeutet das, er kann nicht bloß durch Steigerung der „Urteilskraft“ und den „gesunden Menschenverstand“ dauerhaft verhindert werden, sondern nur durch die Demokratisierung auch der Produktionsmittel, d. h. die Änderung der Eigentumsverhältnisse und des ökonomischen Systems. Für das Abgleiten einer sozialistischen Bewegung in den monopolbürokratischen Kollektivismus (abgesehen von den historischen Umständen Russlands) bedeutet die Wesenserkenntnis dieses Systems, dass demokratische Institutionen (nicht nur als Schein) und wirkungsvolle Menschen- und Bürgerrechte etabliert werden und eine allgemeine Vernunftmoral gelten muss, die, soweit es Prinzipien überhaupt vermögen, neue Herrschaftsformen verhindern.

Kritik am Begriff des Totalitarismus

Die Begriffe „Totalitarismus“, „total“, „Gehirnwäsche“ suggeriert, dass Menschen total beherrscht werden können. Dies ist jedoch zweifelhaft, weil Menschen nicht nur Spontaneität haben, sondern auch ein Selbstbewusstsein (vgl. Arendt: totaler Herrschaft, S. 222/Anm. 111a) – wie verkümmert auch immer. Dies hat Arendt selbst konstatiert. Die „Geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes“ 1939 – 45, die sie kennt, „zeigen nämlich einmal, daß die Bevölkerung über die sogenannten Geheimsachen – das Hinmetzeln von Juden in Polen, die Vorbereitung des Angriffs auf Rußland usw. – bemerkenswert gut informiert war, und zum anderen lassen sie erkennen, ‚welches Maß von unabhängiger Meinung sich die Objekte der Propaganda bewahrt hatten‘“ (a. a. O., S. 7/Anm.), auch wenn sie bis zum Ende mit den deutschen Faschisten kooperierten.
   Arendt vergleicht den deutschen Faschismus („Nationalsozialismus“) mit dem stalinschen Bolschewismus nach dem einfachen Schema, Gleiches und Ungleiches zu erkennen. Da sie aber nicht auf das Wesen dieser Systeme, den entscheidenden Unterschied der sozialen und ökonomischen Struktur und Formbestimmtheit, eingehen kann wegen ihrer phänomenologischen Herangehensweise, d. h. dem Verbleib in der „Pseudokonkretheit“ (vgl. zu diesem Begriff Adorno: Negative Dialektik, S. 82 f/Anm.), kann sie beide Systeme kraft ähnlicher Erscheinungen als totalitäre Herrschaft bestimmen. Dabei ist der Begriff der Herrschaft bereits eine Äquivokation, insoweit er politische Herrschaft, also Macht, meint, aber nicht die eigentliche ökonomische Herrschaft, die Abschöpfung eines Mehrprodukts oder Mehrwerts durch die, welche über die Produktionsmittel verfügen. Die Herrschaft in einem faschistischen Regime beruht auf der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und der Ausbeutung der Lohnabhängigen, auch wenn der faschistische Staat während des Krieges in die Privatwirtschaft eingegriffen hat. Die bolschewistische Herrschaft beruht auf der kollektiven Verfügungsmacht der Bürokratie und der Funktionäre des Systems über die Produktionsmittel (Verstaatlichung der Fabriken ab 1918, Grund und Boden nach der Kollektivierung usw.). Ich nenne deshalb dieses Herrschaftssystem mit Wittfogel u. a. „monopolbürokratischen Kollektivismus“, auch wenn Stalin die Bürokratie ständig „gesäubert“ hat.
   Die totalitäre Führung behauptet, die Zukunft wissenschaftlich voraussagen zu können, und zwar entweder den „Naturgesetzen“ (wie der „Rassentheorie“) entsprechend bei den Nazis oder zur Folge der „ökonomischen Gesetze“ im dogmatischen Marxismus (a. a. O., S. 135). Dies ist zurecht falsch, da das Handeln der Menschen sowohl vom Zufall wie von ihrer Freiheit der Willkür bestimmt ist, sodass es keinen historischen Determinismus geben kann. Hannah Arendt schließt jedoch aus diesem Denkfehler oder dieser Propagandabehauptung, dass es überhaupt keine ökonomischen Gesetze gäbe. Alles in der Politik verdanke sich bloß der Freiheit der Willkür der Menschen (wenn auch unter vorgefundenen (unverstandenen) Bedingungen). Dadurch wird sie unfähig, den Einfluss ökonomischer Gesetze, die durchaus bestimmend sind, auch wenn sie nicht das Geschehen mit Notwendigkeit determinieren, auf das Verhalten und die politische Sphäre zu erkennen und ihren Einfluss abzuschätzen. Dies wirkt sich dahingehend aus, dass sie die Wirkung der ökonomischen Gesetzlichkeit auch auf den Willen nicht versteht und die Grundlage dieses möglichen Verständnisses eliminiert durch ihre Theoriefeindlichkeit.
   In Bezug auf den Totalitarismus hat Arendt ihre eigene phänomenologische Methode bei dem totalitären Führer wiedererkannt, ein Führer, der nicht ein gewöhnlicher Demagoge ist, auch kein „‘charismatischer Führer‘ im Sinne Max Webers“ (totaler Herrschaft 3, S. 106), sondern jemand ist, der Propaganda mit seiner Bewegung und Macht verquickt, ohne die Propaganda und ihre Fiktionen verpuffen würden. Arendt schreibt: „Die Kunst des totalitären Führers besteht darin, in der erfahrbaren Realität geeignete Elemente für seine Fiktionen herauszufinden und sie so zu verwenden, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben. Dies geschieht dadurch, daß man Erfahrungselemente isoliert und verallgemeinert, also sie dem Bereich der Urteilskraft, die ihnen ihren Platz in der Welt angewiesen hätte, entzieht, um dann die so vom gesunden Menschenverstand unabhängig gewordene, aus ihrem allgemeinen Zusammenhang gerissene Erfahrung in das ihr logisch inhärente Extrem zu treiben. Dadurch wird eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, mit der die wirkliche Welt und die nicht verabsolutierte Erfahrung nie und nimmer in Konkurrenz treten können.“ (A. a. O., S. 106) Was diese phänomenologische Methode des totalen Führers von ihrer Methode unterscheidet, ist die Urteilskraft, die lebendige Erfahrung und der gesunde Menschenverstand. Aber eine Urteilskraft ohne gesellschaftstheoretische Kriterien, die Arndt ablehnt, ist bloß willkürliches Urteilen; lebendig Erfahrung ist immer bloß singulär, kann eine allgemeine These bestätigen oder auch nicht; und der gesunde Menschenverstand ist der an der Oberfläche der Erscheinungen befangene Verstand, der nicht zum Wesen der Sachen durchdringt, weil dieses nur der Analyse und Theorie zugänglich ist, die von ihm abgelehnt wird. Der gesunde Menschenverstand ist dann pragmatisch auf das Bestehende positivistisch reduziert.

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4.   Zusammenfassende Beurteilung der Philosophie von Hannah Arendt

Jedes Denken, das nicht in der Unendlichkeit der Phänomene versinken will, muss den Unterschied von Wesen und Erscheinungen auf irgendeine Art manchen. Um eine Beispiel zu geben à la Arendt: Hätten am Vorabend der Französischen Revolution die Bürger und Bauern ihre konkreten Beschwerden vorgebracht, wie sie von diesem oder jenem Grundherren bedrängt werden, wie die Kirche ihnen noch den letzten Sou aus den Taschen zieht, dann wäre es nie zu der allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gekommen. In der philosophischen Tradition wurde das Wesen (so noch nach Kant) durch Abstraktion, Komparation und Reflexion gewonnen, indem das Unwesentliche wegelassen und das Wesentliche als Begriff gefasst wurde. Für Hegel ist ein solches „Wesen“ ein caput mortum, er bestimmt das Wesen als Gesetz der Erscheinungen (Hegel: Logik II, S. 153), ein Begriff des Wesens, der dann auch in die Marxsche Kapitalanalyse eingegangen ist. Bei Husserl (siehe oben seine Ersetzung des Wesens durch die Epoché ) und im logischen Positivismus wird ein solcher Begriff des Wesens abgelehnt, in Freges Logistik lässt sich ein universales Urteil gar nicht mehr denken, sondern es gibt als allgemeines nur All-Urteile, d. h. „alle Elemente sind“ usw., das was bei Kant „universell“ (bloß komparativ) heißt im Gegensatz zu „universal“ (notwendig allgemein).
   Indem Hannah Arendt ihrer Methode folgt, von sinnlich erfahrbaren Beispielen auszugehen, die unmittelbare Erfahrung sprechen zu lassen, das narrative Moment zu betonen, den „gesunden Menschenverstand“ gegen Theorien, die Gesetzeswissen begründen und reflektieren, auszuspielen,  steht sie in dieser positivistischen, letztlich ideologischen Tradition.
   Entscheidend für ihre Auffassung, was als wahr gelten soll, stellt der Begriff des Ereignisses dar. Sie folgt darin Heidegger. Die Wahrheit des Seins offenbare sich Heidegger zufolge im Ereignis, konkret den der Machtergreifung des deutschen Faschismus 1933. („Nicht Lehrsätze und ‚Ideen‘ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ (Heidegger 1933/34, zitiert nach Mensching: Seinsfrage, S. 77)) Im Gegensatz dazu ist für Sartre das Wahrheitsereignis der Widerstand gegen die Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht. Und für einen heutigen linken Heideggerianer ist die Revolte 1968 das Wahrheitsereignis, aus dem er den Kommunismus ableitet (vgl. Erinnyen Nr. 21, S. 63 ff., insbesondere S. 68). Diese Willkür setzt sich bis Arendt fort, indem sie jedoch an viele Ereignisse anknüpft. Sie bezieht ihr Denken nicht auf ein Wahrheitsereignis wie die drei anderen, sondern auf eine Vielzahl von empirischen Quellen (vgl. Weißpflug, a. a. O., S. 29). Nichtsdestotrotz bleibt dies ein willkürliches Verfahren. Und wenn sie zwischen „dunkelsten Zeiten“ und heller Zeit unterscheidet (ebd.), dann ist dieses moralische Kriterium wie bei der Bestimmung des „Bösen“ nicht nur nicht begründet, sondern den Vorurteilen des (bürgerlichen) gesunden Menschenverstandes entnommen, der sich an der oberflächlichen Machbarkeit im Bestehenden orientiert.
   Die Verachtung der Tradition führt für Arendt zu einer schematischen Einteilung der Geschichte des Denkens: Wie Popper alle Geschichte in offene Gesellschaften und geschlossene Gesellschaften abstrakt einteilt, so Arendt in Herstellen (negativ) und Handeln (positiv). In ihrer Reflexion über das Böse hat sie keinen Begriff vom Bösen, weil sie diesen Reflexionsbegriff nur haben könnte, wenn sie einen Begriff des Guten hätte, stattdessen beruft sie sich auf das unmittelbare Gefühl. Bei Eichmann fällt sie auf das Phänomen der Verteidigungsstrategie Eichmanns herein, der den banalen Bürokraten spielt, obwohl er auch nach dem Krieg ein fanatischer Faschist geblieben ist. In ihrer Totalitarismus-Analyse leugnet sie die objektive Existenz von Klassen, weil sich deren Erscheinungsweise geändert hat, verabsolutiert Phänomene und kann den strukturellen Unterschied zwischen Faschismus, der auf dem kapitalistischen Privateigentum aufsitzt, und dem monopolbürokratischen Kollektivismus, der in der Verfügungsgewalt einer Monopolbürokratie über die Produktionsmittel besteht, überhaupt nicht denken.
   Was bleibt an der Kritik am „totalen Führer“ ist bloß noch eine Versicherung auf Seiten der akzeptierten Meinung zu stehen, das Bekenntnis und die Seichtigkeit des Gefühls, nach Hegel die Verfallsformen der Philosophie. „Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen (…)“. Man kann nicht die Welt begreifen aus der „subjektiven Zufälligkeit des Meinens und der Willkür“, „was die und zwar mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes“ bewerkstelligt haben. (Hegel: Rechtsphilosophie, Vorrede)
   Ihre Methode kann man charakterisieren, wie Marx das am Romantiker Adam Müller demonstriert hat, der nur „die Staubwolken der Oberfläche“ sah „und dies Staubige anmaßlich als etwas Geheimnisvolles und Bedeutendes“ ausgesprochen hat (K III, S. 369). Insofern der objektive Schein der Wirklichkeit falsches Bewusstsein über das Wesen der Gesellschaft erzeugt und sie diesen Schein reproduziert, sind ihre Texte ideologisch in der Bedeutung falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung der Privateigentümer zu sein. Insofern sie den bloßen Phänomenen aufsitzt, kann sie keine grundsätzlichen Alternativen zu den negativen Erscheinungen denken, d. h. ihr Denken ist positivistisch.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Ffm. 1975.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Leipzig 1990. (Mit einem Essay von Hans Mommsen: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann).
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band 1: Antisemitismus, Ffm., Berlin, Wien 1975.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band 2: Imperialismus, Ffm., Berlin, Wien 1975.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band 3: Totale Herrschaft, Ffm., Berlin, Wien 1975.
Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Jerome Kohn. Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Lutz. Mit einem Nachwort von Franziska Augstein, München; Zürich 2003.
Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich 1987.
Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. Herausgegeben von Mary McCarthy. Aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter, München, Berlin, Zürich 2016.
Fellmann, Ferdinand: Phänomenologie zur Einführung, Hamburg 2006.
Bensch, Hans-Georg: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes. Band 5, CANTRADICTIO Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte Band 5. Herausgegeben von Günther Mensching, Würzburg 2005.
Bulthaup, Peter: Requiem für einen toten Hund: Adornos Metakritik der Erkenntnistheorie (Vorlesungsabschrift), Hannover 1988.
Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik Nr. 21. Hrsg. v. Verein zur Förderung des dialektischen Denkens, Garbsen 2010.
Gaßmann, Bodo: Autonomie oder Heteronomie? Zur Ethik als praktische Philosophie der Veränderung. Mit einer Rezension von Arno Kaiser, Garbsen 2019.
Gaßmann, Bodo: Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens. Resultate der kritischen Philosophie, Garbsen 2012 (zweite leicht verbesserte Auflage).
Gaßmann, Bodo: „Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion. Über die Selbstzerstörung der bürgerlichen Vernunft, Garbsen 2014.
Gaßmann, Bodo: Zur Geschichte der bürgerlichen Moralphilosophie. Zweiter Teil der „Ethik als praktische Philosophie der Veränderung“, Garbsen 2019.
Habermas, Jürgen: Hannah Arendt, in: ders.: Philosophisch-politische Profile, Ffm 1987.
Johannes, Rolf: Über die Welt, die Habermas von der Einsicht ins System trennt, in: Unkritische Theorie. Gegen Habermas. Herausgegeben von Gerhard Bolte, Lüneburg 1089.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg 1976. (KrV)
Kant, Immanuel: Logik, in: Werke Bd. 5. Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975.
Kuhne, Frank: Marx’ Ideologiebegriff im Kapital, in: Hans-Georg Bensch, Frank Kuhne u. a.: Das Automatische Subjekt bei Marx. Studien zum Kapital, hrsg. v. Gesellschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg 1998.
Mensching, Günther: Seinsfrage, Seinsgeschichte und die Vernichtung der Metaphysik, in: Martin Heideggers „Schwarze Hefte“. Eine philosophisch-politische Debatte. Herausgegeben von Marion Heinz und Sidonie Kellerer, Ffm. 2016.
Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwarts-Philosophie. Eine kritische Einführung. Band I, Stuttgart 1978.
Weißpflug, Maike: HANNAH ARENDT. Die Kunst politisch zu denken, Berlin 2019.

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