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Rezensionen philosophischer Werke!

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Gefühlsmoral ante Portas
Zur Kritik der Moralbegründung aus dem Gefühl

Eine Rezension von Bodo Gaßmann über:

Otto-Peter Obermeier: Moralisch fühlen, gierig handeln? Zur Aktualität von Adam Smiths „Theorie der moralischen Gefühle“, Hannover 2019.
(519 S.; geb.; Hardcover, Mit Personen- und Sachverzeichnis; Verlag für Philosophie: der blaue Reiter.)

Der Ruf der Philosophie heute

Mit der Philosophie liegt es im Argen. Haben früher Abteilungsleiter mit ihrer Verkaufsphilosophie angegeben, obzwar sie keine Ahnung von der Liebe zur Weisheit hatten, aber mit deren Klang angeben wollten, so hört man diese Hochstapelei nur noch selten, denn der schlechte Ruf der Philosophie ist inzwischen unten angekommen. Verursacht hat dies die Philosophie selbst und die Halbgebildeten, die sich von der Prinzipienwissenschaft nicht in ihr Fach, ihr Spezialthema und ihr politisches Durchwursteln dreinreden lassen wollen. So erwähnt Jutta Ditfurth in ihrem neuesten, an sich verdienstvollen Buch gegen Rechtsextremisten die Philosophie zweimal, an einer Stelle spielt sie die Analyse der sozialen Lage der Menschen gegen das aus, was sie „ein filigraner Philosophiediskurs bei teurem Wein“ nennt. (Ditfurth: Haltung und Widerstand, S. 57) Ist diese Aversion gegen Philosophie inhaltslos, so deutet sie auf Seite 70 einen Inhalt an, nämlich dass Kants und Hegels Bedeutung darin bestehe, dass sie zu den „älteren deutschen Meisterdenker(n) der Rassentheorie“ (a. a. O., S. 71) gehörten. Es ist pejorativer Blödsinn zu behaupten, vor der biologischen Rassentheorie (im Sozialdarwinismus) Rassentheoretiker zu sein, nur weil sie vielleicht den unspezifischen Rassenbegriff benutzten, den z. B. auch Marx benutzt, wenn er von der Rasse der Ökonomieprofessoren usw. spricht. Wenn der avancierte Stand der Vernunft aus der Reflexion ihrer Geschichte resultiert, dann muss man von den Stärken eines Philosophen ausgehen, nicht von seinen zeitbedingten Vorurteilen und Schrullen. Wenn man aber keinen Wesensbegriff hat und philosophiefern nur in den Erscheinungen herumwühlt, dann ist Kants Liebe zum Senf genauso wichtig wie seine Pflichtbestimmung, das Notwendige zu wissen.
  Auf einem niederen Niveau der linken Kulturindustrie wird dann aus der Universalwissenschaft Philosophie, in welcher der Philosoph die Prinzipien des Existierenden reflektiert, aus diesem ein "Alleswisser", der als Störung des eigenen Kleinklein empfunden wird (so in der Konkret 12/19, S. 49).
  Die unterste Stufe derjenigen, die überhaupt die Philosophie erwähnen und nicht nur ihr Unverständnis durch Achselzucken kundtun, stellt der Spiegel dar. So schreibt ein Dirk Kurbjuweit über ein „Philosophicum“, indem er die Teilnehmer als Elite aufwertet, um sie gleich wieder auf SUV-Besitzer herunterzubringen, die in einem fünf Sterne Hotel wohnen und die ihren Lifestyle moralisch aufladen. Irgendwelchen Inhalt kann man erraten, wenn gesagt wird, sie zitieren Luhmann, oder solche Allgemeinplätze von sich geben wie: es sei „die Macht des Zufalls anzuerkennen“ oder die „Eliten repräsentierten nur noch sich selbst“. Damit solch ein Geschwätz nicht allzu banal wirkt, erfindet oder übernimmt der Autor neue Begriffe wie „Jetlegscham“. Die Bezeichnung „kluge Gedanken“ kommt öfter vor, ohne diese Worte mit Inhalt zu füllen. Wenn Kurbjuweit die Tagung „irgendwie fad fand“, dann ist seine Darstellung aufgepeppte journalistische Fadheit.
   Mit dieser Kritik journalistischer Flachheiten ist aber noch nichts über die Qualität heutigen Philosophierens ausgesagt. Dieses lässt sich exemplarisch an dem Buch von Obermeier erkennen.

Zur Interpretation von Adam Smith durch Obermeier

Liest man die ersten Seiten vom Autor des Buches über Smith, dann vermutet man, das Feuilleton-Geschwätz über Philosophie setzt sich auf 519 Seiten fort: „Dies ist ein Buch von einem Dinosaurier für Dinosaurier“ (Obermeier: Moralisch fühlen, S. 9; alle Zitate dieses Werks werden von nun an nur mit der Seitenzahl angegeben.). Obermeier stellt die falsche Alternative auf zwischen „verbeamteten Sprachhütern“ und der „Luft des freien Geistes“. Doch in der Philosophie kommt es nicht auf den Jargon, sondern auf Wahrheit an. In seinem „‘digitalen age‘, in dem wir jetzt leben“ (ebd.), hat Wahrheit keine Bedeutung mehr, so macht er gleich auf der ersten Seite Stimmung gegen Kant: „Die rationalistischen Ethiken sind zu verkopft, und Kant war der Gipfel dieses Irrwegs.“ Dass ein Mensch, der sich vom Tier durch seine Ratio auszeichnet, ebendiese beschimpft als un-menschlich oder als „Sokratischen Murks“ (S. 340), entspricht der Tendenz des Werkes von Obermeier. Und im Übrigen ist Kants Ethik nicht rationalistisch, das war die von Christian Wolff, sondern rational. Gerade die ethischen und moralischen Schriften von Adam Smith und David Hume waren für Kant der Grund, seine kopernikanische Wende in der Moralphilosophie zu vollziehen und moralische Prinzipien allein aus Vernunft zu begründen (vgl. Gaßmann: Moralphilosophie, Abschnitt 9). Obermeier fällt dagegen zurück auf die längst überwundene Gefühlsmoral, er kritisiert nicht die Vernunftmoral, sondern macht bloß Stimmung gegen sie.
   Bevor ich aber die Apologie der Gefühlsmoral durch Obermeier kritisiere, will ich auch auf die Stärken seines Buches eingehen. In den Kapiteln, die Smith‘ Schrift über „moralische Gefühle“ wiedergibt, lässt er den Schnodderton hinter sich (jedenfalls überwiegend) und gibt den Inhalt – soweit ich sehe – einigermaßen genau wieder. Das fängt bereits damit an, dass er den Titel von Smith nicht mit „Theorie der ethischen Gefühle“ wiedergibt, wie es in meiner Meiner-Ausgabe heißt, sondern korrekt mit „Theorie moralischer Gefühle“ (im Original: „The Theorie of Moral Sentiments“). „Ethik“ ist die wissenschaftliche Reflexion und Begründung der Moral, ein ethisches Gefühl ist dann Blödsinn (was ist ein wissenschaftliches Gefühl) oder Hochstapelei, eine Bestimmung, wie sie im 19. Jahrhundert in Mode gekommen war.
   Anfangs geht Obermeier auf die Biografie von Smith ein und reflektiert das „geistige Umfeld in Glasgow“, vor allem die Moralphilosophie von Hutcheson und Hume. Die Wiedergabe des Werkes von Smith folgt mehr oder weniger der inhaltlichen Gliederung des Buches selbst. Im Vorwort macht er Lesevorschläge zu seinem „lange(n) Machwerk“, das „quasi-modulartig“ aufgebaut ist, und nennt den, der das Ganze lesen will, einen „Dinosaurier“ (S. 10) „Der Kern der Smith’schen Ethik wird in den Kapiteln III – VI dargestellt. Leseleistung: knappe 145 Seiten.“ (S. 11) Sein zusammenfassendes Urteil über Smith lautet: „Adam Smith war ein nüchterner, erfahrener und praxisorientierter Beobachter menschlichen Verhaltens. Er thematisierte nicht nur die akzeptierten Gefühle, Neigungen und Affekte, sondern auch all die Perversionen und Verdrehungen, die menschliches Fühlen begleiten und unser Handeln bestimmen. Daraus resultierten zahlreiche Paradoxa: etwa das der kritiklosen Bewunderung der Reichen und Mächtigen durch die Massen, obgleich dieser Selbstbetrug die Stabilität einer Gesellschaft garantiert oder: die Betonung edler Motive, die unser Handeln leiten sollten, obgleich letztendlich nur der schiere Erfolg zählt.“ (Klappentext) Bei der Wiedergabe stellt Obermeier auch Beziehungen her zur Ökonomie von Smith, zu Platon und Aristoteles, zur Stoa und zu Epikur, aber auch zu Mandeville und andere Gegner der Moral. Zugleich kritisiert er mit Smith die Kasuistik seiner Zeit. Von den vielen Reflexionen Obermeiers, die auch für heutiges Verhalten relevant sind, sei die Unterscheidung von Moralität und Legalität herausgestellt. „Der, welcher nur aus Angst vor der Strafe moralisch handelt, ist zugleich Sklave dieser seiner Ängste. Er ist lediglich der Legalität verpflichtet, selbstredend wegen der lauernden negativen Folgen, welche die Gesetze androhen, Gerichte verhängen und die Exekutive vollzieht. Der wirklich moralisch Handelnde tut dies aber aus Liebe zu den Tugenden. Auch täuscht er nicht den Schein eines ehrbaren Menschen vor, sondern handelt moralisch aus innerer Überzeugung. Er ist primär der Moralität und nicht nur der Legalität und dem moralischen Schein verpflichtet. Häufig verfolgen ‚legale‘ Charaktere, sobald sich ein straffreier Raum auftut oder die Gesetze nicht greifen, rücksichtslos ihre Vorteile. Sie umschleichen die Gesetzeswerke wie üble Einbrecher eine Villa, immer darauf lauernd, wann sich eine Gelegenheit zu einem ‚Bruch‘ auftut.“ (S. 49) Die Frage, ob in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt (außer in Nischen) moralisch gehandelt werden kann, stellt Obermeier nicht. Dadurch bleibt seine Apologie der Gefühlsmoral ideologisch. In den letzten Kapiteln gibt Obermeier die Auseinandersetzung von Adam Smith mit anderen Gestalten der Ethik wieder, indem er sich auch hier auf die Seite der smithschen Gefühlsmoral stellt.
   Neben der Sympathie (als Mitgefühl) gibt es noch eine zweite Grundannahme dieser Richtung. „Smith postuliert, wie sein Lehrer Francis Hutcheson und sein Freund David Hume, bei unseren Handlungen und ethischen Urteilen den Vorrang der Affekte und Gefühle vor allen Vernunfterwägungen. (…) Vernunft liefert für unser Handeln nur die Mittel, die Instrumente und die dahinterstehenden naturwissenschaftlichen Gesetze.“ (S. 63) Die Reduktion der Vernunft auf instrumentelle entspricht dem entfremdeten Telos der kapitalistischen Gesellschaft, die Akkumulation des Kapitals, das nicht von Menschen gesetzt ist, aber von ihnen technisch exekutiert wird.

Der Grundgedanken der Gefühlsmoral von Adam Smith

Adam Smith nennt den entscheidenden Grund der bürgerlichen Philosophie, die auf Empirismus und Nominalismus basiert, warum das Gefühl das Entscheidende bei der moralischen Beurteilung sein solle. „Die ersten Wahrnehmungen können ebensowenig wie alle anderen Erfahrungen, auf welche sich allgemeine Regeln gründen, Gegenstand der Vernunft sein, sondern müssen Gegenstand einer unmittelbaren Empfindung oder eines Gefühls sein. Wenn wir in einer großen Mannigfaltigkeit von Fällen finden, daß eine bestimmte Art des Verhaltens beständig in einer gewissen Weise unser Wohlgefallen erregt und eine andere ebenso beständig unser Mißfallen, dann bilden wir aus diesen Erfahrungen die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit. Die Vernunft aber kann nicht irgendeinen einzelnen Gegenstand um seiner selbst willen uns angenehm oder unangenehm machen. Die Vernunft kann uns zeigen, daß dieser Gegenstand das Mittel ist, um einen anderen zu erlangen, der von Natur aus uns wohlgefällig oder mißfällig ist, und sie kann in dieser Weise den Gegenstand uns um eines anderen willen angenehm oder unangenehm machen. Nichts aber kann uns angenehm oder unangenehm um seiner selbst willen sein, das nicht durch eine unmittelbare Empfindung und ein Gefühl dazu gemacht würde. Wenn also die Tugend in jedem einzelnen Falle notwendig um ihrer selbst willen gefällt, und wenn das Laster ebenso sicherlich um seiner selbst willen unser Mißfallen erregt, dann kann es nicht die Vernunft, sondern nur eine unmittelbare Empfindung oder ein Gefühl sein, das uns auf diese Weise Tugend anziehend und das Laster abstoßend erscheinen läßt.“ (Smith: Theorie, S. 533 f.; im Folgenden übernehme ich Formulierungen aus meinem Buch: „Moralphilosophie“.) Inhaltlicher Ausgangspunkt, die „Basis der Smithschen Ethik“ (S. 61 ff.), ist der Begriff Sympathie. Obermeier schreibt: „Sympathie heißt nicht nur Mitfühlen, Mitleiden, Mitfürchten, Mitängstigen, sondern auch Mitfreuen, Mitlachen, Mitempfinden von Lust. Sympathie heißt, an der gesamten Gefühlswelt anderer Menschen und deren Lage imaginär teilzunehmen.“ (S. 67) Es versteht sich schon logisch, dass dieser Begriff nichts Konsistentes ist, sondern ein Synkretismus bedeutet (Neuendorff: Interesse, S. 77; vgl. auch Gaßmann: Moralphilosophie S. 198 f.). Damit kann man das eine wie sein Gegenteil begründen. Obermeier kritisiert nur zaghaft, „daß Smith kaum zwischen ethisch relevanter Sympathie und der ‚ethisch‘ völlig unbedeutenden, biologisch verankerten, unmittelbaren, reflexartigen Sympathie unterscheidet“ (. S. 67) Entsprechend ist die Ethik von Smith auch durch unzählige Beispiele gefüllt, in denen sich Logisches und Psychologisches untrennbar vermischen. Gegen die festen Regeln betont Obermeier die relativistischen Tendenzen von Smith‘ Ethik, indem er von einer „multiperspektivischen Ethik“ schreibt (S. 448), die mangelnde Exaktheit der Situation auch auf die moralischen Urteilskriterien bezieht (S. 451) und von einer „Rahmenethik“ (ebd.), ja, postmodernistisch Smith‘ Theorie der moralischen Gefühle als „Erzählung“ lobt. „Nicht nur das ethische Urteil ist auf die jeweilige ‚Situation‘ fokussiert, auch das Aufzeigen von ethischen und unethischen Situationen mit Hilfe von ‚Märchen‘ ist essentiell. Es sind diese Erzählungen, die unsere Gefühle bewegen, als Vorbild dienen und in die ethische Richtung führen und nicht irgendwelche abstrakte Regeln und ebensolche Subsumtionstechniken.“ (S. 450) (Übrigens scheint mir die Verwechslung von „ethisch“, als Bezug auf die Reflexion der Moral, und moralisch, auf die Regeln des Handelns bezogen, in diesem Zitat gewollt, es wertet die Ethik ab und macht aus dem Moralischen, das als „ethisch“ apostrophiert wird, eine Phrase. Smith selbst bestimmt seine wertenden Gefühle traditionell als „moralische“.) Obermeier beurteilt eine Ethik als Erzählung positiv: „Daher setzt sich die eine Gruppe von Ethikern, zu der sich auch Smith zählt, zur Aufgabe, zum moralischen Handeln hinzuleiten, zu begeistern, zu ermahnen. Ein wesentlicher Teil ihrer Aufgabe ist es, ‚Geschichten‘ zu erzählen.“ (Ebd.) Die gesellschaftliche Konsequenz einer solch multiperspektivischen Rahmenethik als Erzählung ist die, dass sich die ökonomischen und sozialen Mechanismen letztlich durchsetzen (siehe unten Kritik an der Gefühlsethik). Daran ändert auch nichts die Perspektive des unparteiischen Beobachters der moralischen Gefühle (vgl. die Kritik daran in Gaßmann: Moralphilosophie, S. 201 f.).

Gerechtigkeit und Gefühlsmoral

Am Begriff der Gerechtigkeit zeigt sich das grundsätzliche Versagen jeglicher Gefühlsmoral. In seiner Reflexion des Begriffs der Gerechtigkeit unterscheidet Adam Smith (nach Obermeier) zwischen „ausgleichender Gerechtigkeit“, die Gesetzestreue und angemessene Bestrafung bei Verstößen fordert, und „zuteilender Gerechtigkeit“, die Lob oder materielle Zuwendungen nach Würdigkeit, Verdienst oder Nützlichkeit für die Gemeinschaft der Bürger zuteilt. Sind bei der ausgleichenden Gerechtigkeit alle Bürger als rechtlich Gleiche gesetzt, so ist doch der Maßstab, das Recht, dem die allgemeine Sympathie des „Normalbürgers“ gelten soll, die Sympathie der Herrschenden, wie Obermeier zurecht auf seine schnodderige Art betont: „Es hätte weder eines Herrn Karl Marx bedurft (links: Marsch, marsch). Noch eines Herrn Carl Schmitt (rechts: Marsch, marsch) um einzusehen: Das herrschende Recht war und ist immer das Recht der Herrschenden.“ (S. 348) Mit dieser (totalitarismustheoretisch verdrehten) Einsicht müsste aber Obermeier seine Sympathie mit der Sympathiemoral aufgeben, dass er das nicht tut, ist ein Zeichen für die Widersprüchlichkeit seiner Interpretation, welche die Smithschen Grundannahmen teilt und zugleich ihre Widerlegung erkennt. Das Recht als Produkt einer allgemeinen Sympathie lässt sich nur ideologisch bestimmen.
   Noch deutlicher wird die Diskrepanz zwischen nicht existierender allgemeiner Sympathie und Gerechtigkeit bei der zuteilenden. Wenn jeder nach seinen egoistischen Interessen in der bürgerlichen Marktgesellschaft handelt (die Voraussetzung von Smith) und dadurch über die „unsichtbare Hand“, d. h. die Marktmechanismen, den Wohlstand der Nation fördert, dann ist soziale Ungleichheit von Sympathie begleitet bzw. gerechtfertigt. „die justitia distributiva (…) war in der Zeit nach Aristoteles das Einfallstor für die Rechtfertigung der ungleichen, ‚gerechten‘ Gleichheit. Zur Ehrenrettung von Smith muß noch ergänzt werden, daß er, zumindest was die Würdigkeit, den Wert einer Person anbelangt, diese tatsächlich an die wahren Verdienste der Person knüpfen wollte. Wenngleich er, wie die meisten seiner Zeitgenossen, die Privilegien der Geburt, der Macht und des Reichtums, die ja die damalige Ständeordnung prägten, akzeptierte. Die Geschichte der ‚iustitia distributiva‘ ist also vor allem eine Geschichte der Rechtfertigung von Ungleichheiten und somit weit mehr als ein Begriff des Rechts oder vor allem der Ethik.“ (S. 346) Daran hat sich aber seit dem 18. Jahrhundert nichts geändert. Das Recht als Produkt einer allgemeinen Sympathie lässt sich nur ideologisch bestimmen, als falsches ethisches Bewusstsein zur Sicherung irrationaler Herrschaft und sozialer Ungleichheit.
   Auch wenn an dieser Stelle bei Obermeier leise Kritik anklingt, so führt dies nicht zu einer Kritik an der Gefühlsmoral, sondern, indem er diese rechtfertigt, zur Affirmation der gewordenen Triebstruktur der antagonistischen Verhältnisse und damit zur bürgerlichen Ideologie.
   Das Prinzip der Sympathie versagt in Bezug auf die Tugend der Gerechtigkeit, obwohl es aller Moral zugrunde liegen soll. Sie kann nicht auf das moralische Gefühl gegründet werden, sondern beruht auf der Institution des Eigentums in der bürgerlichen Gesellschaft. Hume hat das klar ausgesprochen: Die Menschen müssen sich ihre Lebensmittel durch Arbeit von der Natur abringen, „durch Geschicklichkeit, Mühe und Fleiß können sie in reicher Fülle zutage gefördert werden. Damit aber werden die Eigentumsideen für jede bürgerliche Gemeinschaft unentbehrlich; von da leitet die Gerechtigkeit ihren Nutzen für die Allgemeinheit her, und darauf allein beruht ihre Schätzbarkeit und ihre moralische Verbindlichkeit.“ (Hume: Moral, S. 25) Gerechtigkeit soll dem Wohlergehen der Gesellschaft dienen (S. 36) und das könne sie, wenn sich die Menschen an das Recht und die Sitte der Eigentumsmarktgesell­schaft halten. Aus seinen Reflexionen über Gerechtigkeit folgt das Dilemma der Gefühlsmoral: Sie gründet die Tugenden allgemein auf ein moralisches Gefühl, Gerechtigkeit aber als Tugend muss aus der Reflexion über den Nutzen in der Gesellschaft, also aus der partikularen bürgerlichen Vernunft entspringen.

Kritik der Gefühlsmoral

Die Gefühlsmoral beruht auf dem Empirismus und Nominalismus, diese Richtung der Philosophie ist aber per se nicht in der Lage, allgemeine Erkenntnisse apodiktisch zu begründen, sie gelangt immer nur zu komparativen Allgemeinheiten. Bedenkt man weiter, dass Gefühle nicht nur individuelle sind, sondern als Teil des Sozialcharakters auch historisch veränderlich, dann schwindet die Gewissheit empirischer Begründung zusehends. Ein Moralprinzip muss aber apodiktisch sein, d. h. Verbindlichkeit haben, wenn es von den Menschen eingesehen werden soll. Mandeville sagt gegen die Gründung der Moral auf das Gefühl: „Was die Menschen von Kindheit an gelernt haben, davon werden sie beherrscht; die Macht der Gewohnheit entstellt die Natur und ahmt sie zugleich derart nach, daß es oft schwierig ist, zu wissen, durch welche von diesen beiden wir beeinflußt werden. Im Orient verheirateten sich früher Schwestern mit Brüdern, und es galt als verdienstlich für einen Mann, seine Mutter zu heiraten. Solche Ehebündnisse sind verabscheuenswert; bei allem Grauen, das uns bei dem Gedanken hieran erfaßt, gibt es aber sicher nichts in uns, was sich von Natur dagegen auflehnte, sondern nur etwas, was sich auf Mode und Herkommen gründet. Ein frommer Mohammedaner, der niemals Spirituosen gekostet, aber häufig betrunkene Menschen gesehen hat, kann leicht eine ebenso große Abneigung gegen den Wein bekommen, wie sie bei uns ein anderer von der geringsten Moralität und Bildung gegen eine Verbindung mit seiner Schwester hat, und beide können sich dann einbilden, daß ihre Abneigung in ihrer Natur begründet sei.“ (Mandeville: Bienenfabel, S. 360, zitiert nach Gaßmann: Moralphilosophie, S. 216) Jede Begründung aus der Natur oder dem Gefühl verfällt einem Zirkelschluss, sie muss etwas a priori bestimmen, dass sie aus dem Aposteriorischen erschlossen hat.
      Es geht hier bei dem Problem Gefühl oder Vernunft nicht um den Ausschluss von Gefühlen zugunsten der Vernunft, sondern um ein oberstes Kriterium, das entscheiden soll, welche Gefühle vernünftig sind und welche nicht. Nach Kant kann das (abstrakte) Moralgesetz a priori sogar selbst ein Gefühl erzeugen, nämlich dass der Achtung vor dem Sittengesetz (vgl. Kant: KpV, S. 193 ff.). Das muss Obermeier prompt diffamieren mit Worten wie „‘neigungslose(s)‘ Achtungsangaffen“ und „ethische Illusion“ (S. 446). Entsprechend kann man gegen Smith‘ Verquickung von moralischem Gefühl mit Nützlichkeit bzw. Interessen argumentieren, denn solch ein Vernunftkriterium fehlt. Einmal ganz davon abgesehen, dass es in einer antagonistischen Klassengesellschaft „ein Glück der Menschheit“, wie Hume es nennt (Moral, S. 137) nicht geben kann, die Nützlichkeit der herrschenden Klassen das Unglück der arbeitenden beherrschten Klasse ist (wie schon bei Locke erkennbar; siehe Gaßmann: Moralphilosophie, S. 127 ff.), sind Nützlichkeit und Interessen immer die von besonderen Personen oder Gruppen. Ist die Gesellschaft durch den Markt, und in diesem die Konkurrenz und Kooperation der Marktteilnehmer, organisiert, dann ist die Gerechtigkeit immer etwas Partikulares, eine „Sympathie mit dem Glück der Menschheit“, also allgemein geltend, ist immer ideologisch und deshalb ein falsches Gefühl (siehe auch Gaßmann: Moralphilosophie, über Hume). (Wegen der Reduktion der Moral auf das Gefühl und die gleichzeitige Abwertung der Vernunft hat man diesen moralischen Empirismus auch als „Schweinephilosophie“ (J. St. Mill) bezeichnet.)

Die Gefühlsmoral und die bürgerliche Gesellschaft

Hume, Smith und die anderen empiristischen Theoretiker der Gefühlsmoral gehen naiv von einer Identität vom Gefühlshaushalt im Individuum und der Gesamtgesellschaft als bürgerliche aus. Die Triebstruktur der Gesellschaft bildet sich – modern gesprochen – in den Vorstellungen des Über-Ichs ab, sodass das Ich, wenn es dagegen verstößt, mit innerer Selbstmissachtung bestraft wird, die durch äußere Missbilligung der anderen Gesellschaftsmitglieder noch verstärkt wird. Durch diese Identität erscheint ein Verstoß gegen die Ordnung der Gesellschaft und ihrer Moral als individueller Fehler, der auch nur individuell geheilt werden kann oder den Ausschluss des Fehlenden aus der Gesellschaft zur Folge hat (Gefängnis, Arbeitshaus, Deportation und Todesstrafe). Doch die bürgerliche Gesellschaft ist antagonistisch verfasst. Neben dem Klassenantagonismus wirkt die Konkurrenz innerhalb der Eigentümer, letztlich auch die zwischen den Staaten. Die Verinnerlichung der Gesellschaft muss deshalb zu Widersprüchen im Gefühlshaushalt der Individuen und ihrem Über-Ich führen. Die Gefühlsmoral, die den Antagonismus in der Gesellschaft ausgleichen soll, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten, ist selbst von ihm geprägt. So ist das Gefühl der Sympathie ambivalent: Habe ich ein Mitgefühl mit den ausgebeuteten Menschen in den Werkstätten, dann erzeugt dieses Gefühl zugleich Hass gegenüber den Ausbeutern. Übernehmen die Lohnabhängigen die bürgerliche Gefühlsmoral, dann verinnerlichen sie feindliche Gefühle und sind manipulierte Opfer. Beschränkt jemand jedoch sein  Mitgefühl auf die eigene Klasse der Eigentümer, dann muss er sich emotional verhärten, was sich u. a. bei den meisten der bürgerlichen Gefühlsethiker an der Befürwortung der lebenslangen Einsperrung der Arbeitsunwilligen in Arbeitshäusern zeigt. Zugleich wird durch diese Ansicht der Zwiespalt im Gefühl der Sympathie rationalisiert zur Ideologie des bürgerlichen Arbeitsethos, von dem man sich doch zugleich dispensiert durch den Luxus u. a. zur Muße, um solche bürgerlichen Philosopheme zu formulieren. Arbeitsdisziplin als moralische Bestimmung gilt für die Lohnabhängigen, nicht für die Besitzbürger, Sympathie wird partikular verteilt.
   Die Gefühlsmoral, die sich als allgemeine geriert, ist bürgerliche Ideologie zur Herrschaftssicherung. Indem Obermeier dieses Konzept im Wesentlichen affirmiert, ist auch sein Buch ideologisch. Seine Abwertung der Vernunft, die bei ihm wie bei Smith bloß noch instrumentell ist, entspricht der kapitalistischen Ökonomie, die von entfremdeten Mechanismen beherrscht wird, und zerstört selbst noch den Gedanken an eine mögliche Autonomie des Menschen.
   Philosophie beruht auf der Genesis ihrer Entstehung, die letzte Ethikversion, die ihre Geschichte gründlich reflektiert hat, ist dann der avancierte Stand der ethischen Vernunft. Insofern ist es verdienstvoll, eine Arbeit über Adam Smith‘ Moralphilosophie zu schreiben. Wenn aber alle Argumente gegen eine Gefühlsmoral abgebügelt werden und die bürgerliche Gesellschaft – trotz gelegentlicher Kritik – als Ganze affirmiert wird, dann ist dies ein Verfall des ethischen Denkens. Es ist kein Wunder angesichts solcher Bücher, wenn die Philosophie heute keinen guten Ruf hat.

Die Rolle der Gefühle heute

Konnte man zu Smith‘ Zeiten noch von einer gewissen Homogenität der Gefühle im Bürgertum ausgehen und sie so ideologisch missbrauchen, so hat sich heute die Situation verändert – alle Klassen und Schichten werden von der herrschenden Gefühlslage manipuliert. Gefühle sind heute standardisiert durch die Kulturindustrie. Sie intendiert die herrschende falsche Versöhnung von Allgemeinen und Besonderen zu festigen, die längst in den Gefühlshauhalt der Menschen eingewandert ist (bereits wenn jemand „wir“ sagt und sich und den Staat meint), sodass rationale Prinzipien als „ethische Illusion“ (S. 446) erscheinen. So wie die ganze Welt durch die Filter der Kulturindustrie geleitet wird, so kann diese sich darauf verlassen, dass die Konsumenten ihre gefühlsmäßig arrangierte Zerstreuung alert konsumieren (vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung). Brecht hat deshalb über seinen Theatervorhang geschrieben: „Glotzt nicht so romantisch“. Nach Brecht muss der bürgerliche Kult falscher Gefühle aufgebrochen werden, um zum Denken zu kommen, denn Gefühle sind oft nichts anderes als die Verlängerung entfremdeter Arbeit in der Freizeit. Damit die Kulturindustrie wirken kann, greift sie die Sehnsüchte der Menschen auf und neutralisiert sie in der Fantasie. Indem Obermeier die Ethik der Gefühlsmoral prinzipiell rechtfertigt, legitimiert er den Missbrauch von Gefühlen in ideologischer Absicht.

 

Weitere Literatur
Gaßmann, Bodo: Zur Geschichte der bürgerlichen Moralphilosophie. Zweiter Teil der „Ethik als praktische Philosophie der Veränderung, Garbsen 2019.
Hume, David: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Übersetzt, mit Einleitung und Register versehen von Carl Winckler, Hamburg 1976.
Neuendorff, Helmut: Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Ffm. 1973.

Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern hrsg. v. Walter Eckstein. Mit einer Bibliographie von Günther Gawlick, Hamburg 1977. (Der Originaltitel heißt: „The theory of moral sentiments“; Hervorhebung von BG.)

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Letzte Aktualisierung:  19.01.2020

                                                                              
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